Großer Zulauf zum Deutschen Textilarbeiter=Verband

Die besondere Härte, mit der sich die damalige Unternehmerschaft den berechtigten Forderungen der Textilarbeiter entgegenstellte, erhöhte das Verständnis der Arbeiter für das Motto des Deutschen Textilarbeiter=Verbandes

Vereinzelt seid ihr nichts, vereinigt alles !

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Massenhafte Eintritte in die Gewerkschaft in der Zeit des Streikes führten dazu, daß der Deutsche Textilarbeiter=Verband, Ortsgruppe Crimmitschau, im Jahre 1928 zum 25-jährigen Jubiläum des Streikes ein eigenes Gedenkblatt mit den Namen der treuen Jubilare herausgeben konnte. Die Aufstellung der dort genannten einhundertundzweiundneunzig Frauen und einhundertundfünfzig Männer finden Sie unter Liste

Der webapprentice hat noch bei seiner "Rufoma" Frida Erler geb. Kötzsch (Mozartstraße 13 zuvor Hermannstraße 11) eine Urkunde zum Gewerkschaftsjubiläum eingesehen. In der genannten Liste fehlt diese, wie auch deren Schwester Anna Kötzsch. Die weitere Schwester Marie Kötzsch ist jedoch unter den Jubilaren von 1928 verzeichnet. Als "Gewerkschaftsveteran" erhielt Frida Erler mitunter für eine Essenkarte zur Teilnahme an der Werksverpflegung. Ich war dann als Kind mit Ihr zu den, verschiedenen, Betrieben unterwegs. In den Archiven der Gewerkschaft wie der seinerzeit zahlreichen Betriebe mit Werksverpflegung sollten Jubilare/Streikteilnehmer ermittelt werden. Das Wissen ist z.T. noch vorhanden, es sollte dokumentiert werden. Eile scheint geboten. Andererseits können Persönlichkeitsrechte, welche, gewahrt bleiben müssen, durch Zeitablauf nun kaum mehr verletzt werden.


"Die Gewerksgenossenschaft der Fabrik- und Handarbeiter, die hier in Crimmitschau ihren Vorort (eigentlichen, geschäftlichen, nicht juristischen Sitz) hat, macht keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Arbeitern, und hat durch diese tatsächliche Anerkennung der Gleichberechtigung beider Geschlechter mehr für die Frauenemanzipation getan, als alle unsere Frauenvereine zusammengenommen, welche die "Frauenfrage" gepachtet zu haben scheinen."

Wilhelm Liebknecht am 22.10.1871 im Gasthof "Zum Schwarzen Adler", Crimmitschau, Festrede zum Stiftungsfest des Crimmitschauer Volksvereines gehalten am Sonntag dem 22.10.1871.

Quelle: Zu Trutz und Schutz. Sechste Auflage. Verlag Th. Glocke, Berlin 1891



SERVICE

Da die seinerzeit verbreitete Frakturschrift heutigen Lesern oft Schwierigkeiten bereitet, soll die Schrift (und teilweise die Orthographie) heutigen Gewohnheiten sinnwahrend angepasst hier vorgestellt werden:

Durch den Bezug Wilhelm Liebknechts auf die Seitennummerierung in der sechsten Auflage bedingt wird diese Nummerierung hier in der Form --- xy --- eingefügt ( 3 < xy > 56).

Wilhelm Liebknecht: Zu Trutz und Schutz

Festrede gehalten zum Stiftungsfest des Crimmitschauer Volksvereines am Sonntag, dem 22.Oktober 1871 von Wilhelm Liebknecht

(Nach der stenographischen Niederschrift)

editiert nach der Sechsten Auflage

Berlin 1891

Verlag der Expedition des "Vorwärts" Berliner Volksblatt, Th. Glocke.

Vorwort

zur Sechsten Auflage

Das Schriftchen, welches mir in der fünften Auflage des Jahrs 1883 vorliegt - eine andere ist mir nicht zur Hand - lasse ich ganz unverändert. Ein Kind des Augenblicks, hat es auch zu bleiben, wie der Augenblick es geschaffen.

Warum eine "Festrede" habe ich an einem anderen Ort kurz erzählt. Der Leipziger Hochverratsprozeß war Schuld daran - er machte mich zum Festredner wider Willen.

Der Wiederabdruck ist insofern zeitgemäß, als es damals wie jetzt galt, die Ziele und die Weltanschauung unserer Partei in allgemeinverständlicher Form zusammenzufassen, und die Anklagen unserer Feinde, die damals schon so beschränkt, unwissend und boshaft waren wie heute -- auch in dieser Beziehung haben sie nichts gelernt -- zurückzuweisen und zu zeigen, daß alles, was die Vertreter der "Ordnung" uns vorwerfen, nur das Spiegelbild ihrer eigenen Sünden oder die Ausgeburt ihrer eigenen Phantasie ist.

Man wird finden, daß wir damals -- und ich wiederhole, an dem Schriftchen wird nicht ein Wort geändert, kein Wort zugesetzt und kein Wort weggelassen -- man wird finden, daß wir damals - vor 19 Jahren - über die organische Entwicklung, das Hineinwachsen einer Gesellschaftsform in die andere, die Unmöglichkeit gewaltsam willkürlichen Eingreifens in die Entwicklungsgesetze -- genau ebenso dachten, wie wir jetzt denken und wie es auf dem Halle`schen Kongreß -- nach der kindlichen Auffassung unserer Gegner: als erzieherische Wirkung des Sozialistengesetzes-- zum Ausdruck kam.

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In Anknüpfung an einen vor mehreren Jahren geführten Zeitungsstreit will ich noch andeuten, daß die Umdrehung der Ausdrücke: Arbeitgeber und Arbeitnehmer in das Gegenteil ihres eigentlichen Wortsinnes in dieser Festrede von mir festgestellt, und als Falschmünzerei angenagelt ward.

Daß vieles, was in dem Schriftchen vorkommt, seitdem schärfer ausgesprochen worden ist, das wird ihm nicht als Tadel angerechnet werden. Wir schreiten fort, und das "Heut" genügt niemals dem "Morgen".

Berlin, den 24. Dezember 1890.

Wilhelm Liebknecht


Freunde ! Der Altmeister der deutschen Demokratie, Johann Jacoby, hat in seiner berühmten Rede "über die Ziele der Arbeiterbewegung" gesagt: "die Gründung des kleinsten Arbeitervereines wird für den künftigen Kulturhistoriker von größerem Wert sein, als der Schlachttag von Sadowa". Hätte er ein Jahr später gesprochen, so würde er haben hinzufügen können: "und als alle glorreichen Siege und 'schönen Kavalleriegefechte' des 'heiligen' Krieges der Herren Bonaparte und Bismarck".

Es ist zwar nicht dem Namen nach ein Arbeiterverein, dessen Stiftungsfest wir heute feiern, aber der "Volksverein" von Crimmitschau besteht fast ausschließlich aus Arbeitern, und huldigt den Prinzipien der Sozialdemokratie; er ist also ein Arbeiterverein der Sache nach, und Jacoby's Wort findet daher auf ihn seine Anwendung.

Ja, die Gründung des kleinsten Arbeitervereines ist eine wichtigere Kulturtat als alle "Großtaten", welche das militärische und monarchistische Europa auf dem sogenannten Feld der Ehre vollbracht hat und noch vollbringen wird; in dem kleinsten Arbeiterverein leben und treiben die Ideen der Gegenwart, wird die Lösung der gewaltigen Fragen vorbereitet, welche unsere Zeit bewegen, während die Hand des Soldaten die Mordwaffe nur führen muß, um die überlebten Schöpfungen der Vergangenheit zu verteidigen und aufrecht zu erhalten. Jeder Arbeiterverein ist ein Reis in der modernen Kultur, gepflanzt in den Weinberg der Menschheit, den die "herrlichen Kriegsheere" nur verwüsten; eine Schule echter menschenbefreiender Bildung, die von den Siegern der Schlachten beleidigt und bedroht wird; ein Stück der neuen Welt, das, wie ein Keil in die alte Welt hineingetrieben, dazu beitragen wird, sie zu zersprengen.

Zwei Welten stehen jetzt schroff einander gegenüber, -- die Welt der Besitzenden und die Welt der Nichtbesitzenden, die Welt des Kapitals und die Welt der Arbeit, die Welt der Unterdrücker und die Welt der Unterdrückten, die Welt der Bourgeosie und die Welt des Sozialismus -- zwei Welten mit entgegengesetzten Zielen, Bestrebungen, Anschauungen und mit verschiedener Sprache, zwei Welten, die nicht neben einander stehen können, von denen die eine der anderen Platz machen muß.

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Im letzten Krieg zeichneten sich beim Schein der Brandkugeln und der auflodernden Städte und Dörfer die Umrisse der beiden Welten, auch dem blödsichtigsten Auge erkennbar, scharf voneinander ab: hier, die Vertreter der alten Welt, Haß und Verachtung predigend gegen das Nachbarvolk; den Menschenmord im Großen als des Menschen höchstes Ziel hinstellend; mit allen Mitteln die Leidenschaften aufstachelnd; das Denken erstickend und auf dem Altar eines engherzigen, fanatischen Patriotismus die Humanität opfernd -- dort, abseiten stehend, die Vertreter der neuen Welt; ruhig neben dem wildtobenden Strom; nüchtern inmitten der Orgien des nationalen Deliriums; unerschüttert durch Vorwürfe, Anklagen, Angriffe, Verfolgungen; stolz den Gegnern die Stirn bietend und ihnen zurufend:

"Was Ihr zu den vornehmsten Pflichten stempelt, erscheint uns als unsittlich; was Ihr als die erhabensten Güter preist, widerstreitet den Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit. Der Mensch, welcher jenseits unserer Grenzpfähle wohnt, ist ein Mensch so gut wie wir; die Völker sind Brüder und sollen einander lieben, statt sich gegenseitig zu erwürgen. Mord bleibt Mord, auch wenn der Mörder und der Ermordete verschiedene Sprachen sprechen und bunte Röcke tragen, statt einfarbiger; der Mord aber ist ein Verbrechen, und das Verbrechen hört nicht auf, Verbrechen zu sein, wenn es in riesigem Maßstab ausgeführt wird. Der Erfolg verwandelt Unrecht nicht in Recht. Was Ihr Ruhm nennt, ist uns das Gegenteil des Ruhmes; was Ihr Ehre nennt, das Gegenteil der Ehre; die Triumphe, mit denen Ihr prahlt, sind uns nur Triumphe der Barberei; der Krieg, und wäre er der glorreichste, ist eine Sünde wider den heiligen Geist der Menschheit - ein Unglück für den Sieger, wie für den Besiegten. Das Wort "Vaterland", das Ihr im Munde führt, hat keinen Zauber für uns; Vaterland in Eurem Sinne ist uns ein überwundener Standpunkt, ein reaktionärer, kulturfeindlicher Begriff; die Menschheit läßt sich nicht in nationale Grenzen einsperren; unsere Heimat ist die Welt: ubi bene ibi patria -- wo es uns wohl geht, d.h. wo wir Menschen sein können, da ist unser Vaterland; Euer Vaterland ist für uns nur eine Stätte des Elends, ein Gefängnis, ein Jagdgrund, auf dem wir das gehetzte Wild sind und mancher von uns nicht einmal einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann. Ihr nennt uns scheltend "vaterlandslos", und Ihr selbst habt uns vaterlandslos gemacht !

Und wie könnt Ihr, die Ihr salbungsvoll Euer Christentum beteuert, uns vorwerfen, daß wir nicht "national" seien ? Ist es nicht etwa ein auszeichnendes Merkmal der christlichen Religion, daß sie den nationalen Gott der Hebräer zu einem allgemein menschlichen Gott erweiterte, also, modern ausgedrückt, das Nationalitätsprinzip zerstörte und den nationalen Gedanken durch den inter-

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nationalen Gedanken verdrängte ? Aus Euch spricht nur das Vorurteil und der Eigennutz; das Interesse der Menschheit erheischt, daß falle, was Ihr vertretet ! Und das Interesse der Menschheit wird Euer Sonderinteresse überwinden. Eure Triumphe beschleunigen nur Euren Sturz. In dem Glockengeläute zur Feier Eurer Siege hören wir schon das Grabgeläute Eurer Herrlichkeit.

Mit unheimlichem Erstaunen sahen die Gegner das unerwartete Schauspiel, hörten sie die fremd klingende Sprache der neuen Welt. Wohl war es nur eine winzige Minorität, die Protest erhob im Namen der Menschheit; aber jede um die Herrschaft ringende Wahrheit ist in der Minorität - und die siegreiche Wahrheit hat stets die Majorität. Wohl bestand diese Minorität fast ausschließlich aus Arbeitern, aus den Enterbten der heutigen Gesellschaft -- allein, wie wäre es auch anders denkbar ? Die Unterdrückten sind es zu jeder Zeit gewesen, welche die Flamme der Freiheit und Humanität gepflegt; denn die Not ist die beste, ja die einzige Lehrmeisterin der Menschheit. Den Schwachen lehrt sie beten, den Starken seine Kräfte gebrauchen, -- zu seiner Befreiung denken und handeln. Heute sind es die Arbeiter, die, von der Not gedrängt, sich dem Emanzipationswerk gewidmet haben - wie es im Mittelalter die Bauern waren, welche das Evangelium der Freiheit und Gleichheit verkündeten; wie zu Beginn unserer Aera in den Armen und Leidenden die christliche Lehre entsprang.

Es ist jetzt nicht zum ersten Mal, daß sich in solcher Weise zwei Welten gegenüberstehen. Im vorigen Jahrhundert, als das Bürgertum noch politisch unterdrückt war, hatte es sich bereits eine eigene Welt der Gedanken und Anschauungen geschaffen, die mit der herrschenden Welt im schroffsten Widerspruch stand und dieselbe zuletzt geistig unterwarf -- ein "moralischer Sieg", dem der materielle in der französischen Revolution auf dem Fuße folgen mußte.

Doch die Geschichte bietet noch eine schlagendere Parallele: Das alte Römerreich hat den Gipfel der Macht bestiegen; es hat nichts mehr zu erobern, weil alle Länder der Erde ihm schon tributpflichtig sind. Die Großen schwelgen in unerhörtem Luxus, die Massen darben in dumpfer Sklaverei. Da lehnt sich in der geknechteten, herabgewürdigten Menge das Gewissen auf gegen solch' schmachvolle Zustände, und eine Bewegung hebt an, die, Anfangs von den Machthabern und Großen verachtet, verlacht; allmählich ihnen Furcht einflößt, und sie zu den heftigsten, grausamsten Verfolgungen gegen die Bekenner der neuen Lehre veranlaßt. Doch die Verfolgungen schaffen nur Märtyrer, und kräftigen die Sache, die sie zerstören sollen. Man verbietet den gefürchteten "Feinden des Staats und der Gesellschaft" (denn das waren die Christen), man verbietet ihnen, sich zu versammeln, -- sie versammeln sich in den Katakomben; man erfindet die raffiniertesten Qualen, umringt

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den Tod mit tausend Schrecknissen, -- umsonst, der Tod hat keinen Stachel für die Verfolgten, und unter den ausgesuchtesten Martern haben sie nur ein mitleidiges Lächeln für die Toren, welche eine Idee töten zu können wähnen. "Ist unsere Sache Gottes, dann werdet Ihr sie nicht zu Grunde richten können; ist sie aber nicht Gottes, dann wird sie auch ohne Euch zu Grunde gehen !" So rufen sie ihren Henkern zu und eilen freudig, siegesgewiß auf den Richtplatz. "Ist unsere Sache Gottes" -- das heißt, in die moderne Sprache übersetzt: Ist das, was wir erstreben, eine Kulturforderung, ist es im Einklang mit den geistigen, sittlichen und materiellen Interessen der Menschheit, dann ist es durch keine Gewalt auszurotten; ist es aber nicht "Gottes", das heißt, ist es im Widerspruch mit diesen Interessen, dann muß es an diesem Widerspruch zu Grunde gehen, -- ohne daß es gewaltsamer Unterdrückungsversuche bedarf, die höchstens dem Absterbenden noch ein Scheinleben einhauchen.

Wohlan, der Löwenzwinger, die Schlangenverließe, das Kreuz, der Scheiterhaufe -- was war ihre Wirkung ? Die Revolution des menschlichen Gewissens schritt unaufhaltsam vorwärts, das Christentum überwand das allmächtige Heidentum, die neue Welt stürzte die alte.

Hier eine Bemerkung. Ich bin weit davon entfernt, die gewöhnlichen Traditionen über das sogenannte "Urchristentum" zu glauben; noch weiter bin ich davon entfernt, die moderne Zivilisation als eine Folge des Christentums zu betrachten. Letztere Auffassung ist entschieden unrichtig, ist sogar eine absolute Umdrehung der Wahrheit; es läßt sich mit Leichtigkeit der Beweis führen, daß jede geistige und materielle Errungenschaft der Menschheit seit der Zeit, wo das Christentum Staatsreligion geworden, im Kampf mit dem Christentum, gegen das Christentum durchgesetzt werden mußte.

Was aber jene Epoche betrifft, wo das Christentum noch die Dornenkrone der Verfolgung trug, so gehören zwar die Legenden, die Mythen älteren und neueren Datums, die man uns vorerzählt, in das Bereich der Fabelwelt, und so kann zwar nicht geleugnet werden, daß Wissenschaft und Kunst den Bekennern der neuen Lehre fremd waren und selbst, weil vermeintlich untrennbar von der Sache des Heidentums, von ihnen auf's Erbittertste bekämpft wurden; - allein, es wäre eine ebenso große Torheit, wie die ist, deren man sich jetzt gegen uns schuldig macht, wollten wir in Abrede stellen, daß die christliche Bewegung sich mit Notwendigkeit aus den damaligen Verhältnissen entwickelt hat, und daß es dieses Protestes der Sittlichkeit, des in den Menschen wohnenden Gleichheitsgefühls bedurfte, um die durch und durch verfaulte, auf Sklaverei begründete heidnische Gesellschaft aufzulösen und damit der Menschheit den Pfad zu weiterem Fortschritt zu öffnen. Wohl folgte dem Sturz des klassischen Heidentums eine lange, düstere Nacht. Das Christen-

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tum zur Staatsreligion geworden, entfernte sich von den Prinzipien, denen es seinen Sieg verdankt hatte, und wurde selber ein Werkzeug der Unterdrückung. Doch die Menschheit ließ sich in ihrem Gang nicht aufhalten. Die Ideen der Gleichheit, der Brüderlichkeit, der Freiheit wucherten fort unter der Oberfläche der Gesellschaft. Vergebens versuchte die Staatskirche dem Geist Fesseln anzulegen, vergebens errichtete sie ihr Inquisitionsgericht . Sie konnte die Leiber verbrennen, aber die ewigen Gedanken erhoben sich, phönixgleich, mit unversehrten Fittichen aus der Asche. Hunderttausende von Ketzern wurden dahingeopfert, die Schergen der "Unfehlbarkeit" feierten die glänzendsten "Erfolge" - -für den Augenblick. Der Enderfolg war, das die Ketzer über die Ketzerrichter siegten. Die Reformation brach die Macht des Papsttums, und heute ist der unfehlbare Papst der Gnade seiner Feinde überliefert, ein Gegenstand des Mitleids, nicht mehr der Furcht.

Führwahr, wer überhaupt fähig ist, zu lernen, der sollte aus der Geschichte der religiösen Verfolgung lernen, daß es ein Wahnsinn ist, das Rad des menschlichen Fortschritts zurückdrehen zu wollen. Wie die Ketzerrichter des Mittelalters verdammt sind, vor den Richterstuhl der Menschheit, so werden auch die modernen Ketzerrichter, die sich unterfangen, die neue Lehre des Sozialismus durch polizeiliche Verfolgungen zu ersticken, verdammt dastehen vor dem Richterstuhl der Menschheit; und wie die Ketzer des Mittelalters zuletzt über die Ketzerrichter siegten, so werden auch die Ketzer der Gegenwart den Sieg davontragen. Oder glaubt man, es sei weniger Lebenskraft in unseren Ideen, als in denen der christlichen Märtyrer ? Eitler Wahn !

Die gleiche Rolle, wie beim Zerfall der altrömischen Welt das Christentum, spielt jetzt der Bourgeoisiwelt gegenüber der Sozialismus. Wie damals haben wir eine Auflehnung des Gewissens gegen den rohen Materialismus*) , der, jedes Ideals bar, den Menschen zum Vieh oder zur Ware herabwürdigt; wie damals sind es die Armen und Enterbten, in denen der Same der neuen Welt aufgegangen ist; wie damals haben wir den Bruch mit den nationalen Vorurteilen. Aber ein wesentlicher Unterschied ist da: der Sozialismus hat nicht die Wissenschaft gegen sich, sondern er hat in ihr seine unumstoßbare Stütze, obschon die Priester der Wissenschaft zum größten Teil im Dienste des Mammons sind; er ist nicht nur Sache des Gefühls, sondern auch des Verstandes; er beruht auf einer klaren Erkenntnis der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse und hat ein bestimmtes, durchführbares Programm für die Reorganisation der Gesellschaft und des Staates, oder sagen wir

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nur: der Gesellschaft; denn der Staat ist nichts anderes als die (mehr oder weniger gut) organisierte Gesellschaft. Als Sache des Gefühls und des Gewissens hat er die ganze Stärke des Christentums -- wohlgemerkt, ich rede hier nur von der christlichen Bewegung im ersten Stadium --, als Sache des Verstandes hat er die Stärke der Wissenschaft. Wenn aber das Gefühl allein schon die ersten Christen unwiderstehlich machte, wie hoffnungslos ist dann erst der Kampf gegen den Sozialismus, dem das Gefühl die Stärke der Religion, der Verstand die Stärke der Wissenschaft gibt ? Könnte das Wort Religion nicht mißdeutet werden, so würde ich sagen: Der Sozialismus ist Religion und Wissenschaft zugleich. Im Kopf und im Herzen der Arbeiter wurzelnd, ist der Sozialismus weder durch List noch durch Gewalt, weder durch sophistische Scheingründe, noch durch Polizei und Zündnadelgewehr auszurotten. In jedem Arbeiter steckt, bewußt oder unbewußt, mehr oder weniger entwickelt, der Keim des Sozialismus, und dieser Keim, -- der Keim der neuen Welt, läßt sich nicht ersticken. Da hilft kein Leugnen, da hilft kein Augenverschließen, kein Denunzieren, kein Dreinschlagen, kein Massakrieren. Die Bewegung vollzieht sich mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes, und Verfolgungen kräftigen den Sozialismus, wie sie das Christentum gekräftigt haben. Die Arbeiter können für ihre Ueberzeugung sterben, wie die Christen es getan. Der Sozialismus hat seine Märtyrer, wie das Christentum sie hat, und werden noch zehntausende, noch hunderttausende getötet, der Sozialismus wird dadurch so wenig am endgültigen Sieg verhindert werden, wie einst das Christentum. Aus dem Blute eines jeden Märtyrers werden hunderte von neuen Märtyrern entstehen: wer mit dem Tod einen Pakt gemacht hat, dem ist der Sieg verbürgt, "Blut und Eisen" mag Feiglingen Angst einjagen, wir spotten der Drohungen und Gefahren.

Blicken wir hin nach Frankreich, das große politische und soziale Versuchsfeld, wo sich jüngst die furchtbar großartige Tragödie der Kommune abspielte.

Das sozialistische Proletariat, das durch die brandenden Wogen der Ereignisse in Paris auf den Gipfel der politischen Gewalt erhoben worden war, es erlag nach heroischem Riesenkampf den vereinigten Anstrengungen der preußischen und französischen Armee; vierzigtausend Arbeiter wurden im Kampf und nach dem Kampf niedergemetzelt; ebenso viele wurden gefangen, um in ungesunden Kerkern, in mephitischen Schiffsräumen, in den glühenden Sandwüsten und giftigen Sümpfen von Neukaledonien der "trockenen Guillotine" zum Opfer zu fallen. Welcher Jubel unter den Vertretern der alten Welt! Die soziale Frage war aus

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der Welt geschafft, der Sozialismus in der Person von 80.000 Sozialisten getötet oder dem Tod geweiht ! - -

Der Sozialismus getötet ? Die Herren haben ein kurzes Gedächtnis. Dreiundzwanzig Jahre vor dieser Katastrophe war Paris der Schauplatz einer ähnlichen Tragödie, die nicht minder großartig, wenn auch nicht von ebenso großen Dimensionen. Die französische Februarrevolution ist Ihnen, den Umrissen nach, bekannt. Das Pariser Proletariat hatte den Julithron gestürzt. Es hatte die Entrüstungsphrasen des liberalen Bürgertums über die Verderbtheit des Bürgerkönigtums ernst genommen und das Uebel an der Wurzel angepackt. Aber die Revolution war ihm keine blose Phrase; es wollte nicht die Ausbeutung und Korruption in einer Gestalt beseitigen, um sie auf der anderen wieder auf den Thron zu heben. -- Eine provisorische Regierung wurde geschaffen -- der Mehrzahl nach aus "honnetten" Republikanern bestehend, mit einigen Vertretern des Sozialismus als Zugabe. Die Arbeiter, mehr vertrauensvoll und großmütig als klug, erklärten der Regierung: "wir wissen, daß die Majorität von Euch unseren Bestrebungen nicht freundlich ist, aber wir wollen womöglich weiteres Blutvergießen vermeiden -- wir geben Euch drei Monate des Elends; drei Monate werden wir in Geduld alle Entbehrungen ertragen; diese drei Monate sind Eure Probezeit. Sehen wir nach Ablauf der Frist, daß Ihr ehrlich seid, daß Ihr den guten Willen habt, etwas für das hungernde Proletariat zu tun, gut, so wird die soziale Frage sich in Frieden lösen. Sehen wir aber, daß wir wieder betrogen sind, nun, dann müssen wir uns selbst helfen."

Die Regierung versprach Alles und -- brach Alles. Die Nationalwerkstätten , die unsere unwissende Bourgeosie zu Schöpfungen des Sozialismus gemacht hat, wurden eingerichtet, um eine Arbeiterarmee gegen den Sozialismus zu gewinnen, ein Versuch, der jedoch an dem regen Klassenbewustsein der französischen Arbeiter scheiterte. Man konnte das Proletariat nicht nasführen -- man mußte es niederkartätschen. Die erforderlichen Maßregeln wurden getroffen, und als die (in der provisorischen Regierung und der unterdessen zusammengekommenen Nationalversammlung vertretene) Bourgeoisie sich des Erfolges sicher glaubte, warf sie die 30.000 Arbeiter der Nationalwerkstätten auf die Straße und zwang sie, Hungers zu sterben oder zu kämpfen. Der dreimonatige "Hungerwechsel", ausgestellt am 18. März, war gerade abgelaufen. Den 21. und 22. Juni bereitete das Proletariat sich zum Kampf vor -- den folgenden Tag entbrannte die Schlacht. Es kann nicht meine Aufgabe sein, die Einzelheiten der Juni-Insurrektion zu entrollen. Genug -- nach viertägigem, heldenmütigem Kampf erlagen 40.000 Arbeiter einer Armee von 80.000 regulären Soldaten und 40.000 National- und Mobilgarden. Entsetzliche Greuel wurden von den

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Siegern verübt -- Tausende von Gefangenen ermordet; man schätzt die Zahl der Arbeiter, die im Kampf blieben oder nachher massakriert wurden, auf zwölftausend; und ebenso viele Gefangene, die man sich scheute, sofort zu töten, wurden nach Lambessa und Cayenne deportiert, wo die meisten von ihnen den Mißhandlungen und dem Klima erlegen sind.

Namenlos war der Jubel der Bourgeosie über die Niederlage der Junikämpfer. Der Sozialismus war vernichtet, die "Gesellschaft gerettet", samt allem, was drum und dran hängt: "Familie", "Eigentum", und der Himmel weiß, was für schönen Dingen, welche die Bourgeoisie in Worten verehrt und in Wirklichkeit mit Füßen tritt und schändet. Der Sozialismus war tot ! Zwölftausend "Banditen", "Mordbrenner", "moderne Barbaren" -- doch ich kann die Schimpfwörter nicht alle aufzählen, die damals im Schwange waren; lesen Sie die Artikel der heutigen Presse über die Pariser Kommune, und Sie haben das ganze Verzeichnis; die journalistischen Handlanger der Bourgeosie haben sich nicht die Mühe genommen, neue Schimpfwörter zu erfinden -- zwölftausend Sozialisten tot, zwölftausend auf dem Weg zur "trockenen Guillotine" -- wer konnte da noch an Gefahr denken für die Zukunft ? Der Sozialismus war tot und begraben; über der Leiche wurde die Erde festgestampft -- wie konnte der Sozialismus wieder auferstehen ?

Die Zeit verstrich -- die Republik mußte bald ins Grab gelegt werden neben den Sozialismus. Und oben auf das Grab stellte Napoleon seinen Thron -- wie konnte der Sozialismus wieder auferstehn ? "Blut und Eisen" regierte; die Presse wurde geknebelt oder gekauft; nichts unversucht gelassen, um die Arbeiter für das Empire zu gewinnen; das Gemüt der Massen systematisch vergiftet; die öffentliche und geheime Polizei in beispielloser Ausdehnung organisiert und zur obersten Staatsinstitution erhoben; die Armee, was ihre wahre Bestimmung im heutigen Staate ist, zu einer Prätorianergarde gemacht, wie eine Buldogge auf den Mann -- auf's Volk dressiert; kurz alle Hilfsmittel der reaktionären Staatskunst wurden aufgeboten, um einen neuen Ausbruch vorzubeugen.

Mehr konnte keine Regierung tun, als Bonaparte getan hat, und ich glaube nicht, daß es eine zweite Regierung gibt, die gleich viel zu tun im Stande ist. Was Bismarck und Stieber jetzt in dieser Richtung leisten, ist nur dem Empire abgelernt. Kein Wunder, daß Bonaparte der Abgott der Bourgeosie wurde; nicht nur der französischen, nein der Bourgeosie aller Länder, insbesondere auch der deutschen. Jeder von Ihnen, meine Freunde, dessen Gedächtnis einige Jahre zurückreicht, wird sich der byzantinischen Verehrung erinnern, die unsere liberale Presse: Kladderadatsch , Volkszeitung, Nationalzeitung -- je "liberaler" desto inbrünstiger -- dem Mann des zweiten Dezember angedeihen ließ. ER war die Mensch ge-

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wordene Vorsehung, ausgestattet mit den göttlichen Attributen der Allweisheit und Allmacht.

Und das Ende vom Lied ?

Nachdem er zweiundzwanzig Jahre lang in der Erde gelegen, begann der totgeglaubte Riese die Glieder zu recken, und am 4. September 1870 erhob er sich und stieg hervor aus seinem Grab, -- der Thron Bonnaparte's fiel und der Sozialismus lebte.

Ein halbes Jahr später entstand die Pariser Kommune. Der Sozialismus, der 1848 sich nur vier Tage im Kampf behauptet hatte, trozte jetzt länger als zwei Monate den vereinigten Anstrengungen der von den Preußen unterstützten französischen Ordnungs-Soldateska, und konnte erst nach achttägiger Straßenschlacht überwältigt werden.

Die Metzelei war größer als 1848, die Zahl derer, die deportiert werden sollen, ist doppelt so groß. Die französische Bourgeosie wollte diesmal reinen Tisch machen, und die Bourgeosie der übrigen Länder klatschte begeisterten Beifall. Allein schon heute, kaum vier Monate nach dem Sieg, fängt die Bourgeosie an einzusehen, daß sie nur einen Pyrrhussieg erfochten, daß sie sich in's eigene Fleisch geschnitten hat. Sie hat so gründlich aufgeräumt, daß es ihr an Arbeitern mangelt für ihre Werkstätten, für ihre Fabriken. Und -- der Sozialismus ist nicht tot. Er lebt, in Paris, in Frankreich, in Deutschland, in allen Kulturländern -- er lebt in der Brust eines jeden Arbeiters, der ein Herz hat, zu fühlen, und einen Kopf, zu denken. Die Bourgeosie kann doch nicht jeden Arbeiter töten; und gelänge es ihr, was hätte sie erreicht ?

Sie hätte Selbstmord begangen. -- Die Bourgeosie existiert durch die Arbeiter; ohne Arbeiter hört sie auf zu existieren und durch die Arbeiter wird sie gestürzt -- aus diesem unerbittlichen Dilemma kommt sie nicht heraus. Die Entfaltung der Bourgeoisie bedingt ein wachsendes Massenproletariat; und das Proletariat wird durch die ökonomischen Verhältnisse zum Sozialismus gedrängt. Je mächtiger die Bourgeoisie, desto massenhafter das Proletariat, desto stärker die sozialistische Bewegung, desto mächtiger die Gegner der Bourgeoisie. Will die Bourgeoisie Bourgeoisie bleiben, so muß sie das Proletariat und damit den Sozialismus stärken, der sie vernichten muß. Bekämpft sie das Proletariat und den Sozialismus, so zerstört sie die Grundlagen ihrer eigenen Macht, ihre Existenz. In diesem cercle vicieux, diesem "schlimmen Zirkel", muß sie zu Grunde gehen.

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Mit "Blut und Eisen" ist die sozialistische Bewegung nicht aus der Welt zu schaffen. Im Juni 1848 ist es umsonst versucht worden; und nicht besseren Erfolg hat die Pariser Bluthochzeit vom Mai 1871 gehabt. Wie die Juni-Insurrektion in der Kommune ihre Auferstehung feierte, so wird auch die Kommune einst ihre Auferstehung feiern; und die Ausbrüche werden sich mit wachsender Macht wiederholen, bis die alte Welt ihre Hilfsmittel erschöpft hat und in Trümmer sinkt. -- es sei denn, dass ein friedlicher Ausweg gefunden werde.

Rohe Gewalt ist unfähig, den Sozialismus zu ersticken. Wer vom Bewußtsein seines Rechts durchdrungen ist, kennt keine Furcht. Man werfe uns ins Gefängnis, man töte uns -- unsere Sache wird darunter nicht leiden. Der unbezwingliche Geist, der die alten Christen lächelnd das Martyrium ertragen lies, er beseelt auch die Sozialdemokraten. Wir schreiten fort auf dem Pfad, den die Ueberzeugung uns zu wandeln gebietet, und ob er sich auch mit Leichen bedecke, wir marschieren vorwärts, wie eine Sturmkolonne, deren Reihen die feindlichen Kugeln lichten, -- vorwärts, bis wir das Ziel erreicht.

Daß Gewalt allein ohnmächtig ist gegen die Sozialdemokratie, das begreifen nachgerade auch unsere Gegner; sie wollen uns mit "geistigen" Waffen bekämpfen. Sie gründen Arbeitervereine, in denen den Arbeitern gelehrt wird, zwischen Kapital und Arbeit herrsche die vollständigste "Harmonie"; das wahre Interesse des Arbeiters erheische, dass er mit dem Arbeitgeber zusammengehe, der Zankapfel der sozialen Frage sei nur von einer handvoll ehrgeiziger, gewissenloser, oder toll überspannter Leute zwischen die beiden Klassen geworfen worden. Nun -- mögen die Gegner fortfahren, Arbeitervereine zu gründen; sie gründen dieselben für uns !

Die Falschheit der Harmonielehre wird dem Arbeiter in empfindlichster Weise durch die tägliche Praxis bewiesen, und ist er anfangs, unter dem Einfluß der Bourgeosiepresse, auch noch so sehr gegen die Sozialdemokratie eingenommen, bald wird er, um einen populären Ausdruck zu gebrauchen, mit der Nase auf den Klassengegensatz und mit Leib und Seele in den sozialen Konflikt gestoßen, und durch die Erfahrung belehrt, daß bei der heutigen kapitalistischen Produktion die Interessen des Arbeiters und Arbeitgebers einander schnurstracks gegenüberstehen; daß es, um nur Eins zu erwähnen, das Interssse des Arbeiters ist, einen möglichst hohen Lohn zu fordern, das des Arbeitgebers, einen möglichst niedrigen Lohn zu geben. In dieser Differenz -- von der allgemeinen politischen und sozialen Stellung der zwei Klassen gar nicht zu reden -- liegt schon allein die Quelle endloser, unaufhörlicher Reibungen und Streitigkeiten, mit einem Worte, der Klassenkampf in mehr oder weniger akuter Form. Und so haben wir denn in neuerer Zeit die sonderbare Ironie der Geschichte erlebt,

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daß die erbittertsten und ausgedehntesten Streiks, -- und der Streik, die Arbeitseinstellung, ist nach der Straßenschlacht die heftigste Form des Klassenkampfes, -- daß die größten und hartnäckigsten in Deutschland, die vom Waldenburg, Forst u. s. w., von Arbeitern ausgegangen sind, die in den Hirsch-Dunker'schen Gewerkschaften das Evangelium der Harmonielehre studiert hatten, denen sich aber die theoretische Milch der frommen Denkungsart infolge der praktischen Behandlung seitens der Arbeitgeber in gährend Drachengift verwandelt hatte. Bei dieser Gelegenheit ist noch zu erwähnen, daß der ärgste "Arbeiterexzess" der Neuzeit auf einem Preußischen Staatsbergwerke (Königshütte) vorgekommen ist, von dem jedes Atom "sozialistischen Gifts" ferngehalten worden war.

Ich dächte: Dies allein genügte, um das Alberne der Behauptung, die soziale Bewegung sei von Einzelnen "gemacht", in das gehörige Licht zu stellen. Doch gehen wir etwas tiefer in diese Frage ein. Also ein paar Männer sollen die Urheber einer Bewegung sein, welche gleichförmig alle Kulturländer ergriffen hat, und welche seit fast einem Menschenalter direkt die Geschicke Europas bestimmt. -- Eine Bewegung, ohne die wir uns u.a. das zweite französische Empire nicht denken können, ohne das wiederum die Bismarck'sche Wirtschaft undenkbar wäre. Welche Beleidigung der Arbeiter liegt in jener Annahme ! Hunderttausende, Millionen von Arbeitern sollen sich durch eine Handvoll Leute die Köpfe haben verdrehen lassen und blind hinter ihnen herlaufen, wie Schafherden hinter den Leithammeln ! Oh, Ihr Herren Bourgeois und sonstigen Reaktionäre ! Wenn die Arbeiter so unselbständig wären, wie Ihr von ihnen voraussetzt, oder doch zu glauben vorgebt, dann würden sie in Euren Netzen zappeln, denn Ihr lasst es wahrlich nicht an Anstrengungen fehlen, um sie zu fangen, und Ihr verfügt doch wahrhaftig über tausendmal mehr Mittel der moralischen und materiellen Beeinflussung, als die Sozialdemokratie !

Überdies ist es ein Merkmal unserer Partei, daß sie den Autoritätsglauben prinzipiell bekämpft und jeden Gedanken persönlicher Führerschaft grundsätzlich zurückweist. Doch die Annahme ist nicht nur eine Beleidigung für die Arbeiter, nicht nur unrichtig im vorliegenden Fall, sondern sie ist auch an sich durch und durch unwissenschaftlich, der Ausfluß einer Anschauung, die auf vollkommener Unkenntnis des geschichtlichen Entwicklungsprozesses beruht.

Das Kind mit seiner regen Phantasie und seinem unentwickelten Verstand bevölkert die Welt mit Prinzen, Riesen und Zauberern. Es sieht überall nur Außerordentliches, Wunderbares, wittert überall das Walten geheimer Kräfte. Auf demselben kindlichen, oder sagen wir lieber kindischen Standpunkt stehen alle diejenigen, welche die menschliche Geschichte als das Produkt einiger auserordentlichen,

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über das gemeine menschliche Maß hinausragender Männer, bald guter, bald schlechter, betrachten, und in jedem Ereignis, in jeder Bewegung die Laune, die Willkür dieses oder jenes Individuums erblicken, das, um für die ihm zugedachte Rolle tauglich zu sein, mit allen möglichen übernatürlichen Eigenschaften ausstaffiert wird. Von diesem Standpunkt ging bis in die jüngste Zeit mehr oder weniger unsere ganze Geschichtsschreibung aus, die nichts anderes war -- und leider auch für die große Masse, der die neueren Werke der Wissenschaft nicht zugänglich sind, noch ist --, als eine Aneinanderreihung von Namen berühmter Fürsten, Feldherren, und sonstiger "Heroen" mit eingestreuten Berichten von Schlachten, Mordgräueln, Haupt- und Staatsaktionen, Verschwörungen, -- kurz ein Sensationsroman niedrigster Gattung, halb Ritter- und Räubergeschichte, halb Kindermärchen.

Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung (wohl zu unterscheiden von der gelehrten), die noch sehr jungen Datums ist und in dem Engländer Buckle ihren Hauptvertreter hat, faßt die menschliche Entwicklung als das notwendige Resultat der Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur auf.

Sie kennt, wie überhaupt die Wissenschaft, keine Willkür, nur Notwendigkeit, keine Laune, nur Mannigfaltigkeit, nichts Wunderbares und Außerordentliches, nur Natürliches und allgemeinen Gesetzen folgendes. Die Wundergestalten der altmodischen Märchengeschichten oder Geschichtsmärchen verschwinden vor der Kritik, wie ungeheuerliche Nebelgebilde vor den Strahlen der Morgensonne; der Heroenkultus wird in die Rumpelkammer des Aberglaubens geworfen, --- die "großen Männer" werden erniedrigt und die Menschheit erhöht.

Der Gang der Geschichte ist ein unaufhörliches Ringen des Menschen mit der Natur, ein ununterbrochener Kampf um das Dasein -- erst Kampf, um von der Natur nicht bewältigt zu werden, dann Kampf, um die Natur zu überwältigen. Die Errungenschaft dieses hunderttausendjährigen Kampfes ist unsere heutige Kultur.

Meine Freunde, Sie Alle wissen unzweifelhaft, daß die biblische Schöpfungstheorie durch die Wissenschaft umgestoßen worden ist. Der Mensch ist nicht vollendet aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen und dann allmählich entartet, so daß Gott Propheten, Heilande und sonstige Wunderwesen auf die Welt schicken mußte, um seine "Ebenbilder" vor gänzlicher Verkommenheit zu retten; das Alter des Menschengeschlechts beträgt auch nicht nur 5 oder 6 Jahrtausende. Die geologischen Forschungen haben zur Gewißheit erhoben, daß die Erde in ihrer festen Gestalt -- vom Alter der Materie, aus der die Erde besteht, können wir nicht reden, da die Materie weder Anfang noch Ende hat --, daß die Erde in ihrer festen Gestalt Millionen von Jahren alt ist, und daß der Mensch in einer, seiner

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heutigen schon annähernd ähnlichen Gestalt seit Hunderttausenden von Jahren existiert. Schon vor Myriaden von Jahren, zur Zeit des Mammut, hatte der Mensch, wie wir aus den aufgefundenen Steinwerkzeugen erfahren, eine Kultur erreicht, die ihn hoch über die Tiere stellt, und die auf die vorhergegangene Arbeit zahlloser Generationen schließen läßt. Nach dem Geschwindschritt der Gegenwart dürfen wir nicht die Fortschritte der Urzeit berechnen. Heute, wo wir auf den Schultern aller früheren Geschlechter stehen, und deren aufgesammelte Kulturarbeit in und um uns haben, sind die Faktoren des Fortschritts kollossal potenziert (gesteigert), während der geringste Fortschritt der Urzeit das Werk von Jahrtausenden war, wie aus dem geringen Unterschied der ausgegrabenen Werkzeuge und Gerätschaften zeitlich weit auseinanderliegender Epochen gefolgert werden muß. Der Urmensch war nicht jenes aufrecht einherschreitende, stolz gen Himmel schauende, auf der gewölbten Stirne seinen Adelsbrief als Herr der Schöpfung tragende Wesen, von dem die Mythe des alten Testaments erzählt. Sein Stammbaum stellt ihn entschieden in die Reihe der anderen Tiere, -- gleich ihnen hat er die Entwicklungsphasen aus der einfachen Zelle heraus durchgemacht; Dank einem Zusammentreffen günstiger Bedingungen gelang es ihm aber, seinen Verwandten den Rang abzulaufen.

Welch kollosale Zeiträume verstrichen sind, bis der Mensch in das historische Zeitalter eintrat, das läßt sich nur ahnen, nicht berechnen. Jedenfalls erfüllt letzteres nur einen winzigen Zeitraum, verglichen mit der vorgeschichtlichen Zeit, das heißt der dunklen Periode, in welcher der Mensch keine bleibenden Denkmäler seiner Existenz schaffen konnte. Die geschichtliche Zeit dämmert erst auf mit der sich bekundenden Fähigkeit des Menschen, Gesellschaften zu gründen. So lange der Mensch für sich allein stand, höchstens zur Heerdenbildung gelangte, wie das bei allen Tieren der Fall ist, hatte er keine Geschichte. Erst von dem Momment an, wo er Gesellschaftstier, "politisches Tier", zoon politikon wird, beginnt seine Geschichte.

Als Einzelner konnte er sich nicht über die Tiere erheben, das konnte er nur in Gesellschaft, in der Gemeinschaft mit seines Gleichen. Erst durch die Gesellschaft wird der Mensch Mensch. Aller Fortschritt, alle Kultur ist Gesellschaftswerk. Und je weiter der Gesellschaftskreis sich erweitert, dasto rascher der Fortschritt, desto intensiver die Kultur.

Von vereinzelten Individuen ausgehend zum Stamm, zur Nation und schließlich zum Weltbürgertum sich erweiternd -- das ist der Gang der Menschenentwicklung.

Erst in der Gesellschaft liegt auch der Keim der Sittlichkeit. Der Mensch muß begreifen, daß es vorteilhafter für ihn ist, sich mit seinen Mitmenschen zu verbinden, als im Krieg mit ihnen, und damit in beständiger Furcht und Gefahr zu leben. Der

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Fundamentalsatz aller Moral: Tue Deinem Nächsten, was Du willst, daß er Dir tue, ist das Produkt der Not, welche die Erkenntnis hervorrief, daß die Menschen solidarische Interessen haben. Freilich, diese Solidarität galt Anfangs nur für dem engsten Kreis der Angehörigen, und wurde nur in einer langen Schule unangenehmer Erfahrungen allmählich erweitert, bis wir jetzt endlich soweit gelangt sind, daß die letzten Schranken der Solidarität nur noch durch die Gewalt der Bajonette aufrecht erhalten werden können. Der Begriff der allgemeinen menschlichen Solidarität ist der höchste Kultur- und Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe des Sozialismus.

Also Gesellschaftswerk ist die Kultur. Ein jeder Mensch, der jemals gelebt, hat den Kampf ums Dasein führen müssen, und in diesem Kampf die Herrschaft des Menschen über die übrigen Geschöpfe und die Natur begründen helfen. Jeder Einzelne hat sein Teil dazu beigetragen zu der Summe der der aufgespeicherten Kulturerrungenschaften. Die "großen Männer", von denen die Geschichtsmythe uns meldet, haben, insoweit sie wirklich gelebt, ebenfalls ihr Scherflein dazu gegeben, -- begünstigt durch die Umstände, möglicherweise ein etwas größeres als ihre unbekannt gebliebenen Mitmenschen, -- in jedem Fall aber wurden sie zu dieser Mehrleistung nur durch die Gesellschaft befähigt. Während die Geschichtsmythe die Völker durch die wunderbaren Taten einiger großer Männer zu dem werden läßt, was sie sind, läßt umgekehrt die kritische Geschichte diese sogenannten großen Männer als das Produkt der Völker erscheinen. Vor den Augen der Wissenschaft finden die politischen Götzen so wenig Gnade wie die religiösen. Wie die Christen weiland die Götzenbilder der Heiden von ihrem Sockel herabwarfen, und dem erschreckt zuschauenden Volke zeigten, daß der gefürchtete wunderbare Gott nichts Anderes war als morsches Holz oder ein Steinhaufen, so reißt die Wissenschaft die "großen Männer" von ihrem Sockel herunter, und beweist, daß die Völker in ihnen nichts Anderes angestaunt haben als ihre eigenen Hirngespinste. Betrachten wir, um den in der Geschichtsmythe vielleicht gewaltigsten herauszugreifen: Napoleon - den Napoleon. Welche Legenden knüpfen sich nicht an seinen Namen ! Welche übermenschlichen Taten werden ihm nicht zugeschrieben ! Wohlan, die historische Kritik hat ihm den Glorienschein abgestreift, und den Wundermann zu einem einfachen Abenteurer degradiert, der mit dem Geschicke eines routinierten Spielers den Rückschlag der Revolutionsbrandung benutzte und sich in eine Stellung hineinschwang, die durch die Verhältnisse geboten war:

seine militärischen und gesetzgeberischen Leistungen sind ihres erborgten, gestohlenen Glanzes beraubt, und der Nachweis geliefert worden, daß er auf allen Gebieten seinen Ruhm den Schöpfungen der französischen Revolution, -- also

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nicht den eines großen Einzelmenschen, sondern einer großen Menschengemeinschaft verdankt.*)

Im Einklang mit dem Verdikt der Geschichte, und in der richtigen Einsicht, daß die Menschen nicht frei sein können, so lange sie sich nicht von jedem Aberglauben und namentlich nicht von dem Personenkultus befreit haben (welcher der schlimmste von allen Götzendiensten, weil die auf der Erde wohnenden Götzen uns näher und darum gefährlicher sind, als die in den Himmel verbannten) -- in Erkentnis dieser Wahrheit hat die Pariser Kommune die Vendomesäule zerbrochen; und wir wollen nur hoffen, daß bald alle derartigen Götzen, die lebendigen wie die toten, die von Fleisch und Bein so gut wie die von Eisen und Marmor, in Trümmer geschlagen werden.

Die wissenschaftliche Geschichte ist die gründlichste Lehrerin der Demokratie, weil sie die Prätensionen der Aristokratie in ihrer Nichtigkeit darstellt. Sie läßt die Heroen, die Hexenmeister verschwinden und bringt dafür den Menschen zur Geltung und Jeden zur Geltung. Nicht der Wunderkraft einiger Auserlesenen verdanken wir unsere Kultur -- nein, die Menschheit ist emporgestiegen, wie die Koralleninseln der Südsee emporstiegen, durch die Kollektivarbeit der Millionen und Milliarden Individuen zahlloser Generationen. Oder um ein anderes Gleichnis zu gebrauchen: Sie haben gewiß, meine Freunde, von den Infusionstierchen gehört, die, winzig klein, nur durch das Vergrößerungsglas sichtbar, doch vermittelst ihrer Massenarbeit die Erdoberfläche verändert haben; Sie haben wohl auch gehört, daß Berlin zum Teil auf einer Schicht von Infussionstierchen steht. Nun, wie diese Infusionstierchen durch Tausende und Abertausende von Jahren wirken und schaffen mußten, um das Fundament für die Prachtbauten der "neuen Kaiserstadt" zu bilden, so mußten Tausende und Abertausende von Menschengenerationen wirken und schaffen, um das Fundament unserer modernen Kultur zu bilden. Nicht dieser und jener Mensch hat uns auf die gegenwärtige Höhe gebracht, -- nein, es ist die Kollektivarbeit Aller; und angenommen, die sämmtlichen Wundermenschen, gute wie böse, hätten nicht gelebt, wir wären genau so weit, wie wir sind.

Unsere Gegner erkennen dies unbewußt an, indem sie -- den Wilden gleich, welche ihre Götzen durchprügeln oder in Stücke schlagen, wenn sie ihnen nicht die verlangten Wunder tun -- ihre menschlichen Abgötter in den Kot werfen, sobald diese ihnen nicht mehr die erwarteten Dienste tun. Bonaparte, der falsche Neffe des Onkels, gestern noch der größte "Staatsmann" der Welt,

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heute liegt er, verachtet von seinen ehemaligen Anbetern, im Staub, und an seiner Stelle wird Bismarck als Abgott verehrt. Auf wie lange ? Das wissen wir nicht; aber was wir wissen, ist, daß auch dieser Götze gestürzt werden wird, und das ihn Die am heftigsten verdammen werden, die ihm heute am sklavischsten Weihrauch spenden. Unser Urteil wird dann gerechter und maßvoller sein, denn wir werden keine Enttäuschung erlebt haben, und nach seinem Fall nicht besser und nicht schlechter von ihm denken als jetzt.

Freunde ! Verzeihen Sie diese kurze Abschweifung ! Ich wollte nur dartun, auf welch unbegründeten Voraussetzungen die Annahme beruht, die menschliche Entwicklung sei das Werk Einzelner, im Guten oder Schlimmen ausgezeichneter Individuen. Was von der Vergangenheit gilt, gilt auch von der Gegenwart. Die Behauptung, die jetzige soziale Bewegung sei durch eine handvoll Leute künstlich, nach Willkür, aus strafbarer Laune erzeugt, ist durch und durch unwissenschaftlich, und kann nur von Kindern, Ignoranten, oder Polizeiseelen ausgehen, nur von Kindern, Ignoranten oder Polizeiseelen geglaubt werden.

Doch unser Streben ist ein "revolutionäres !" Revolution ! Furchtbares Schreckbild für alte Weiber beider Geschlechter ! Ja, wir sind Revolutionäre ! Wir wollen eine Umgestaltung der heutigen Gesellschaft an Haupt und Gliedern. Aber blicken wir dem Schreckensbild fest in's Auge, und es verliert sein Schrecknis. Wir leben inmitten der Revolution und leben durch die Revolution. Die ganze menschliche Geschichte ist eine fortwährende Revolution ! Die Geschichte ist die Revolution in Permanenz, -- sie ist Werden, Wachsen, Wechsel, Fortschritt -- beständige Umänderung, weil beständig schaffendes Leben. So lange der Mensch lebt, ist er Revolutionär. Daß er unzufrieden ist mit dem, was er ist, was er hat, stets nach Höherem strebt, -- darin liegt gerade sein menschliches Wesen. Hört der Mensch, hört die Menschheit auf, revolutionär zu sein, so hört der Mensch, so hört die Menschheit auf, zu existieren. Die Revolution, die Bewegung ist Leben, -- die Nichtrevolution, der Stillstand ist Tod.

Allerdings hat das Wort Revolution noch eine andere, engere Bedeutung. Man versteht darunter den "gewaltsamen" Bruch mit den vorhandenen Staats- und Gesellschaftsformen.

Wohlan, dieser gewaltsame Bruch, wodurch, durch wen wird er hervorgebracht ? Wer trägt die Verantwortlichkeit für alle bisherigen Revolutionen ? Nicht Diejenigen, welche nach den Gesetzen der menschlichen Entwicklung neue Formen für den neuen Inhalt, neuen Ausdruck für die neuen Ideen erstreben, -- nein, die haben die Schuld, welche den naturgemäßen, notwendigen Gang

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der menschlichen Entwicklung aus Kurzsichtigkeit oder Egoismus zu stören suchten. Wie der Strom -- es ist das ein oft angewandtes, aber sehr treffendes Gleichnis -- ruhig dahinfließt, wenn kein Hindernis seinen Lauf aufhält, aber, durch Felsen gehemmt, wild tobende Wasserfälle bildet, oder sich, verheerend, über die Ufer ergießt -- so der Lauf der Weltgeschichte. Nur wo sich ihm Hindernisse entgegentürmen, entstehen Stromschnellen, Wasserfälle, Ueberschwemmungen -- Aufruhr, Rebellion, Revolution. Alle Revolutionen in diesem engeren Sinne des Wortes, von denen die Geschichte uns Kunde gibt, sind nicht das Werk der sogenannten Revolutionäre gewesen, sondern Derer, die dem natürlichen Gang der Entwicklung Hindernisse in den Weg warfen.

Alle Revolutionen tragen darum nicht einen aggressiven, sondern einen defensiven Charakter. Defensiv war der Bauernkrieg -- er wurde geführt in Verteidigung der heiligsten Menschenrechte, denen der Feudalstaat seine Anerkennung verweigerte; defensiv war die Erstürmung der Bastille -- sie war notwendig gemacht durch die drohenden Bewegungen der Hoftruppen; defensiv war der Tuileriensturm des 10. August 1792 und die Schreckensherrschaft -- notwendig, um Frankreich vor den Verschwörungen im Innern und den Angriffen von außen zu schützen; defensiv war die Julirevolution gegen die Angriffe des Bourbonenkönigs auf die bürgerlichen Freiheiten; devensiv die Februarrevolution -- gegen die korrupten Einflüsse der bürgerlichen Wirtschaft; defensiv die Deutsche Märzrevolution -- gegen das volksfeindliche Treiben der Kamarillen ; defensiv war die Junischlacht -- dem Proletariat aufgezwungen durch die Bourgeoisie, welche den Sozialismus um jeden Preis erdrosseln wollte; defensiv war die Septemberrevolution -- um Frankreich vor den Folgen des schmachvollen Staatsstreichs von Sedan zu bewahren; defensiv endlich war die Kommune, dieser tragische Versuch zur Rettung der Französischen Republik, nachdem Frankreich zum zweitenmal binnen Jahresfrist von seiner Regierung verraten worden war.

Und so wird es auch in Zukunft keine Revolution geben, außer zur Verteidigung. Wir sind revolutionär, aber die revolutionäre Bewegung, in der und für die wir tätig sind, wird nur dann zu Gewalttaten und Blutvergießen führen, wenn unsere Gegner es wollen, dh. die Regierung und die Bourgeoisie.

Freunde ! Nachdem ich nun im Allgemeinen den Beweis geführt habe, daß unsere Bewegung nicht künstlich gemacht, sondern organisch aus den Verhältnissen hervorgewachsen ist, und folgerichtig nicht eher aufhören kann, als bis die Ursachen entfernt sind, will ich jetzt im Einzelnen die hauptsächlichsten Vorwürfe, Einwendungen und Anklagen besprechen, welche die feindliche Presse gegen

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uns erhebt, und durch welche man unsere Partei teils in der öffentlichen Achtung herabzusetzen, teils in sich selber zu spalten sucht.

Zunächst ist man systematisch bemüht, die sogenannten "Führer" anzuschwärzen, um sie des Vertrauens der übrigen Parteigenossen zu berauben. "Die Führer", sagt man -- und wir können es täglich in den großen und kleinen Amts- und Bourgeois-Blätten lesen --"die 'Führer' nähren sich vom Schweiß der Arbeiter", "sie betrachten ihre politische Tätigkeit nur als einträgliches Geschäft" u. s. w. -- Nun, ich kenne allerdings Leute, die vom Schweiß der Arbeiter sich mästen, auf Kosten der Arbeiter in Saus und Braus leben -- und das sind die Herren Bourgeois, welche durch die nicht vollbezahlte Arbeit ihrer Lohnsklaven reich werden; und was die Herren Beamten angeht, wenigstens die oberen -- denn der Subalternbeamte ist ein Proletarier trotz Einem und hat ein Interesse, gemeinschaftliche Sache mit uns zu machen -- so frage ich: woher kommt denn das Geld für die Beamtengehälter ? Etwa nicht aus den Steuern ? Und wer bezahlt denn die Steuern ? Niemand anders, als die Arbeiter: der Industrie- und Landarbeiter, der alle Steuern zu entrichten hat, auch die, welche er nicht direkt in der Form von Steuern entrichtet. So mögen sich denn die Herren an der eigenen Nase zupfen !

"Vom Schweiß der Arbeiter leben !"

Fürwahr, die Herren Bourgeois betreiben das selber so gründlich, daß keine Nachlese mehr möglich ist.

Was ist denn bei dem Arbeiter zu holen ? Er hat ja, dank dem heutigen Ausbeutungssystem, nicht so viel, um sich und seine Familie in einer annähernd menschlichen Existenz zu erhalten.

Wären die sogenannten "Führer" Männer, die nicht aus Ueberzeugung sondern aus Eigennutz handeln, wohlan -- so würden sie sich an die richtige Schmiede wenden, dahin, wo etwas zu holen ist: an die Herren Bourgeois und an die Regierungen, die so heidenmäßig viel Geld haben. Wer sich verkaufen will, verkauft sich Dem, der ihm das meiste Geld geben kann. Ich will den betreffenden Journalisten, welche uns im Auftrage ihrer Brotherren diese Beschuldigung in's Gesicht schleudern, den ehrlichen Glauben an das, was sie sagen, nicht abstreiten, aber jedenfalls haben sie das -- Glück, einer Sache zu dienen, die das meiste Geld, ja die alles Geld hat, und die sie gut, sehr gut, und wenn sie Talent haben, sogar glänzend bezahlen kann. Die Millionen des Preußischen Preßfonds , die wohl honorierten Pfründen in Staat und Gesellschaft, sie sind nicht für uns.

Und ganz abgesehen von pekuniären Rücksichten, welche "Vorteile" haben den die "Führer" ? Daß sie, im Vorderkampf stehend, den Angriffen der Gegner, den Verfolgungen der Behör -

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den zur Zielscheibe dienen ? Und was schlimmer: daß sie aus dem regelmäßigen Erwerb, den regelmäßigen Bahnen des Lebens herausgerissen werden ? Der Kampf selbst -- mit so unehrlichen Waffen er gegen uns geführt wird, denn wir sind nicht nur politisch vogelfrei, sondern auch moralisch, und man befolgt auch gegen uns das contra haereticos nulla fides : den Ketzern nicht treu und Glauben ! -- der Kampf selbst hat seine Aufregungen und seinen Genuß; aber das gestörte, oft zerstörte Familienglück, die Ungewißheit der Existenz, die Nahrungssorgen, die sich in nicht seltenen Fällen zur absoluten Not steigern -- ist das ein beneidenswertes Los ?

Wer sich verkauft, verkauft sich, um ein Leben des Luxus führen zu können, nicht um zu darben, nicht um zu hungern. Unter den sogenannten "Führern" unserer Partei ist mir kein einziger bekannt, der nicht durch seine Stellung in der Partei materiellen Schaden erlitten hätte. Hierin liegt aber der sicherste Beweis der Ehrlichkeit, der Selbstlosigkeit. Freilich für unsere Gegner, die den Egoismus in der Praxis zu ihrem einzigen Leitstern erhoben, in der Theorie zum Eckstein ihrer angeblichen Volks-, d.h. Bourgeoisie-Wirtschaftslehre gemacht haben, ist solche Selbstlosigkeit ein Buch, verschlossen mit sieben Siegeln: sie sind unfähig, zu begreifen, daß es Prinzipien, daß es Ideale gibt, die den, der sie erfaßt hat, unempfindlich machen für Not und Gefahr. Könnten sie es begreifen, sie wären nicht unsere Gegner.

Der Ehrgeiz, der Wetteifer sind mächtige Hebel, allein ein tausendmal mächtigerer Hebel ist das Gefühl der Pflicht, das Bewußtsein des Rechts. Mit diesem Hebel werden wir die Welt aus den Angeln heben !

Meine Freunde ! Ich komme jetzt zu den verschiedenen Vorwürfen, die man der Sozialdemokratie überhaupt macht, und zwar in der doppelten Absicht: die öffentliche Meinung gegen uns aufzuhetzen, und die schwachmütigen, nicht völlig prinzipienfesten Mitglieder unserer Partei in's Wanken zu bringen. Ob und wie weit Ersteres gelungen ist, haben wir hier nicht zu untersuchen; was Letzteres angeht, so ist das Bemühen zwar ein eitles, allein, es läßt sich doch nicht leugnen --, und in meiner Stellung am Parteiorgan habe ich manigfache Gelegenheit gehabt, es zu erfahren --, daß Parteigenossen sehr häufig durch derlei Beschuldigungen in den Lokalblättern momentan verwirrt worden sind. Betrachten wir nun die wichtigsten Anschuldigungen der Reihe nach.

Erstens -- und damit beginne ich, weil es für die Gegner in vorderster Linie steht, -- wirft man uns vor, wir wollten das Eigentum abschaffen. Nun, meine Freunde ! Eine bodenlosere Lüge ist nie ausgesprochen worden ! Was ist Eigentum ? Wie die Vernunft und die Wissenschaft lehrt, gibt es nur eine Quelle der Wertproduktion im ökonomischen Sinn, die Arbeit.

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Nur die Arbeit schafft ökonomische Werte. Das Kapital, das die im Sold der Bourgeosie befindlichen Volkswirtschaftler als zweiten Faktor der Wertproduktion hinstellen, ist selbst nur ein Produkt der Arbeit. Wenn aber die Arbeit den Wert schafft, dann hat auch die Arbeit ein Recht auf den von ihr geschaffenen Wert, und zwar ein Eigentumsrecht. Dieses Eigentumsrecht ist der Fundamentalsatz der Sozialdemokratie. Jeder Arbeiter soll den vollen Ertrag seiner Arbeit haben, -- in anderen Worten: jeder Arbeiter hat das Eigentumsrecht auf den vollen Ertrag seiner Arbeit. Mein Eigentum soll sein das Produkt meiner eigenen Arbeit. Und da den Satz: Jeder hat das Recht auf den Ertrag seiner Arbeit, der andere Satz ergänzt: Niemand hat das Recht auf den Ertrag fremder Arbeit, so läuft der Sozialismus darauf hinaus, Jeden zum Eigentümer zu machen, der arbeitet, und jeden hungern (ich sage nicht: verhungern) zu lassen, der arbeitsfähig ist und nicht arbeitet.

Ich dächte, entschiedener könnte man doch nicht für das Eigentum eintreten, als wir es tun ! Schon in der heutigen Welt, in der der Müßiggang höher geschätzt wird als die Arbeit, und die materielle Stellung der Menschen im umgekehrten Verhältnis zur Produktivität ihrer Arbeit und zur Nützlichkeit ihrer Beschäftigung steht, muß die ungeheure Mehrzahl der Menschen arbeiten, ich meine wirklich arbeiten, nicht zum Vergnügen oder "geistig", wie die Herren Bourgeois das mitunter in scherzhaftem Humor von sich behaupten -- also nach unseren Eigentumsbegriffen müßte schon in der heutigen Welt die ungeheure Mehrzahl des Volks aus Eigentümern bestehen. Wie ist es aber nach dem herrschenden Eigentumsbegriff, nach dem Eigentumsbegriff unserer Gegner ?

Nur eine winzige Minorität der Bevölkerung hat Eigentum; das Eigentum ist das Monopol einer Klasse, der Rest der Bevölkerung, die ungeheure Majorität muß für sich selbst auf das Eigentum verzichten und für die Minorität Eigentum schaffen. Gerade deshalb bekämpfen wir die Bourgeoisie, weil sie dem Proletariat den Besitz von Eigentum unmöglich macht, weil sie den Arbeiter um sein rechtmäßiges Eigentum bestiehlt. Man mißverstehe mich nicht. Ich will nicht jeden einzelnen Bourgeois zum Dieb stempeln. Wir haben es überhaupt nicht mit Personen zu tun, sondern mit dem System -- umgekehrt wie unsere Gegner, die sich hüten, unser System zu kritisieren, uns dagegen persönlich zu beschmutzen suchen -- das sichere Zeichen, daß sie nicht an die Rechtmäßigkeit und Stärke ihrer eigenen Sache glauben. Ich rede hier nicht von den einzelnen Bourgeois, es sei ferne von mir, sie persönlich verantwortlich machen zu wollen für die Übel der heutigen Gesellschaft. Unsere Auffassung der geschichtlichen und ökonomischen

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Entwicklung schließt dies von vornherein aus. Die bürgerliche Welt ist mit Naturnotwendigkeit aus der feudalen Welt hervorgewachsen, wie die feudale Welt ihrerseits aus der antiken Welt.

Wir fassen die Geschichte organisch auf, nicht mechanisch; wir wissen, daß jedes Ding seine Ursache, seinen zureichenden Grund haben muß, und das nur die krasseste Ignoranz in den Erscheinungen der Welt Willkür, sei es im Guten oder im Schlimmen, erblicken kann. Wir unterfangen uns nicht zu sagen: "Die Menschheit ist bisher auf falschen Bahnen gegangen; wir wollen ihr den einzig richtigen Weg weisen, und wer nicht so denkt wie wir, ist ein Dummkopf oder ein Schurke!" Das wäre die Sprache von unreifen Knaben oder Scharlatanen. Die Wissenschaft kennt keinen Irrtum in den Dingen, sie kennt nur einen Irrtum in der Auffassung der Dinge. Die heutige Produktion hat sich organisch aus den früheren Produktionssystemen entwickelt, sie ist ein höheres Produktionssystem als alle früheren, und hat also ihre volle Berechtigung.

Jetzt aber tritt ihr ein neues Produktivsystem gegenüber -- das sozialistische --, dem sie ebenso gewiß wird weichen müssen, als vor ihr selbst die mittelalterliche und kleinbürgerliche Produktion weichen mußte.

Genug, nicht das Eigentum überhaupt greifen wir an, sondern nur das Eigentum in seiner heutigen Form -- das Eigentum, welches durch die Ausbeutung anderer Menschen erworben wird, die selber zur Eigentumslosigkeit verurteilt sind.

Werfen wir einen flüchtigen Blick auf die Art, wie das Eigentum heute entsteht. Ich sagte schon: Der Satz, daß die Arbeit die Quelle allen Reichtums ist, wird von der wissenschaftlichen National-Oekonomie einstimmig zugestanden.

Daraus folgt, daß niemand ein Anrecht auf Werte hat, die nicht das Produkt oder Aequivalent des Produkts seiner eigenen Arbeit sind. Nun ist aber erwiesenermaßen die Arbeitskraft und Produktionsfähigkeit der Menschen so ziemlich gleich -- der eine schafft etwas Mehr, der andere etwas Weniger, aber das Mehr wie das Weniger entfernen sich nicht weit von der Durchschnittslinie. Hieraus folgt weiter, daß der Ertrag der Arbeit aller Menschen bei Benutzung gleicher Produktionsinstrumente -- wie dies doch innerhalb eines und desselben Volkes der Fall -- so ziemlich gleich ist, und daß also, wenn jeder Mensch den Ertrag seiner individuellen Arbeit empfinge, eine ziemliche Gleichheit des Eigentums herrschen würde.

Diese herrscht nun aber bekanntermaßen nicht, sondern das Gegenteil, die größte Ungleichheit. Woher das ? Sie, meine Freunde, die sie in einer Fabrikstadt wohnen, haben die beste Gelegenheit, zu beobachten, wie die gesellschaftliche Ungleichheit entsteht. Jeder von Ihnen kennt irgendeinen Fabrikanten, den er hat reich werden sehen.

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Nehmen wir z. B. den Herrn Zimmermann aus Chemnitz, einen richtigen Musterbourgeois, von dem Sie Alle wenigstens gehört haben -- in Crimmitschau fehlt es mir an Bekanntschaft unter den Fabrikanten -- : derselbe kam vor 20 oder 30 Jahren nach Chemnitz, so arm wie der Aermste unter uns; es gelang ihm, ein kleines Kapital zusammenzubekommen, -- damals lies sich noch, weil die Großindustrie noch nicht so entwickelt, das Kapital noch nicht so konzentriert war wie jetzt, mit Hunderten von Talern etwas ausrichten, wozu heute Tausende nicht genügen. "Er hatte Glück", das heißt, er bekam Aufträge auf Arbeit, die er durch das von ihm gemietete Arbeiterpersonal tun lies, mit Ausnahme des auf seine Person entfallenden Anteils, der indes nicht größer war, als der seiner einzelnen Arbeiter; denn es ist notorisch -- und das macht das Beispiel besonders lehrreich --, daß die Fähigkeiten des Herrn Zimmermann in keiner Hinsicht sich über den Durchschnitt erheben. Wohlan, anfangs beschäftigte Herr Zimmermann ein Dutzend Arbeiter, dann hundert, zuletzt über tausend, und Herr Zimmermann ist heute Millionär, also Eigentümer comme il faut, während seine Arbeiter Habenichtse sind, eigentumslose Proletarier. Woher der Unterschied ? Aus der Qualität der Arbeit läßt er sich nicht erklären, da die persönliche Arbeit des Herrn Zimmermann der Qualität nach gewöhnliche Durchschnittsarbeit ist. Er hat gewiß nicht besser, und obendrein gewiß nicht so viel gearbeitet, als die Mehrheit seiner Arbeiter. Und doch ist er Millionär geworden, und sind sie Proletarier geblieben. Der Ertrag seiner eigenen Arbeit konnte ihn nicht zum Millionär machen; denn wäre die Arbeit in seiner Fabrik so einträglich, daß sie den einzelnen Arbeiter zum Millionär machen könnte, dann hätten alle, wenigstens die Mehrzahl seiner Arbeiter, Millionäre werden müssen. Sie sind aber Proletarier geblieben. Und da, meine Freunde, liegt der Hase im Pfeffer. Herr Zimmermann hat mehr und seine Arbeiter weniger bekommen, als Jeder den Ertrag seiner eigenen Arbeit. Die Arbeiter des Herrn Zimmermann mußten Proletarier bleiben, damit er Millionär werden konnte. Und wenn auch nicht jeder Arbeitgeber ein Zimmermann wird, so ist doch jeder, der es ist, im Wesentlichen auf die nämliche Weise Großkapitalist geworden, wie Herr Zimmermann, -- das heißt durch die Arbeit seiner Arbeiter.

Das Resultat springt in die Augen; nicht so klar treten die Ursachen zu Tage.

Ich gebrauchte eben das Wort Arbeitgeber; eigentlich sollte es heißen Arbeitnehmer. Die alte Welt liebt Ausdrücke, durch welche die Begriffe entstellt, oft geradezu auf den Kopf gestellt werden. Sie nennt Arbeitgeber Den, welcher die Arbeit Anderer nimmt, und Arbeitnehmer Den, welcher seine Arbeit einem Anderen gibt. Die heutige Großproduktion erlaubt es dem Einzelnen

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nicht, auf eigene Faust, für sich allein produktiv zu arbeiten; sie macht das Zusammenarbeiten Vieler zur Notwendigkeit; sie bedingt ferner komplizierte Arbeitsinstrumente, deren Anschaffung die Kräfte eines Jeden übersteigt, der nur über den Ertrag seiner eigenen Arbeit verfügt -- insoweit sie ihm bei der heutigen Produktion Ertrag liefert. Die Folge davon ist, daß alle Diejenigen, die nicht über ein genügendes Kapital verfügen, -- und bei der heutigen Produktionsweise kann keiner es durch seine eigene Arbeit erwerben, -- dazu gezwungen sind, ihre Arbeit einem Dritten zu verkaufen, der das nötige Kapital besitzt.

Der Kaufpreis, den dieser für die Arbeit bezahlt, ist der Lohn. Und -- beiläufig bemerkt -- für den Lohn kauft er nicht nur die Arbeit, sondern zugleich den Arbeiter, der sich ja von seiner Arbeit nicht trennen kann und mit seiner Arbeit sich selber verkaufen muß. Wie Sie wissen, behauptet der Käufer, der "Wohltäter" des Gekauften zu sein -- er "gibt" ihm ja Arbeit und damit Brot, das er sonst nicht haben würde. So nach der Theorie des sogenannten Arbeitgebers.

In Wirklichkeit gestaltet sich die Sache aber anders, bezahlte der "Wohltäter" den vollen Wert dessen, was derselbe für ihn schafft, so würde er am Ende des Jahres -- und beschäftigte er tausend und zehntausend Arbeiter -- um keinen Pfennig reicher sein, als am Anfang des Jahres. Das liegt aber nicht im Plan des "Wohltäters" -- er will reicher werden, sein Kapital vermehren: und um das zu können, muß er seinem Arbeiter weniger bezahlen, als dieser für ihn schafft. Mit anderen Worten: der Lohn, den er gibt, ist nicht ein volles Aequivalent der geleisteten Arbeit, der Arbeiter schafft über den bezahlten Wert hinaus einen Mehrwert, der ihm nicht bezahlt wird; und dieser Mehrwert ist es, der das heutige Bourgeoiskapital erzeugt.

Tiefer kann ich in die Geheimnisse dieses Erzeugungsprozesses hier nicht eingehen. Ich verweise Sie auf das "Kapital" von Karl Marx, der auf ökonomischen Gebiet ist, was Buckle für die Geschichtsschreibung, Darwin für die Naturwissenschaften.

Genug -- nicht der sogenannte Arbeitgeber ist der Wohltäter des Arbeiters, sondern der Arbeiter ist der Wohltäter des sogenannten Arbeitgebers. Allerdings ein unfreiwilliger Wohltäter. Denn seine Wohltätigkeit macht ihn zum Proletarier, zum Lohnsklaven dessen, den er bereichert. Ist das in der Ordnung ? Ist das Recht ? Nur wer seinen persönlichen Vorteil dabei findet, kann es bejahen. Die Arbeiter aber müßten Freude haben am Elend, an der Knechtschaft, wenn sie nicht Alles aufbieten wollten, um einen solchen Zustand ein Ziel zu setzen.

Das Lohnverhältnis ist der Eckstein der heutigen Klassenherrschaft und all der Uebel, welche sie mit sich bringt. Das Lohn-

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verhältnis abzuschaffen, ist darum vornehmstes Ziel der sozialdemokratischen Bewegung.

Der Arbeiter soll den vollen Ertrag seiner Arbeit, und seine Arbeit soll die durch die moderne Wissenschaft gesteigerte Produktivität der kollektiven Arbeit haben: das Eigentum, keine Zerstörung des Eigentums.

Was wir wollen, ist: Jeden in den Stand setzen, Eigentum zu haben; das Eigentum des Arbeiters vor den Klauen des Kapitals zu schützen. Und dies wollen wir erreichen durch die Assoziation. Statt daß die Arbeiter für Rechnung eines Dritten arbeiten, der sie ausbeutet und sie zu seinen Sklaven macht, sollen sie auf eigene Rechnung, gleichgeordnet, nebeneinander arbeiten, und als freie Mäner den vollen Ertrag ihrer Arbeit empfangen.

Wir verkennen nicht die Vorteile der konzentrierten Produktion, wir wissen, wie die Zusammenarbeit den Ertrag der Arbeit steigert. Wir wollen deshalb die Vorteile der heutigen Großproduktion erhalten, ja durch Konzentrierung der Gesamtproduktion und durch freie Entfaltung des Individuums noch mächtig steigern, aber wir wollen diese Vorteile auf Alle gleichmäßig ausgedehnt haben, nicht Monopol einiger Weniger bleiben lassen.

Besteht die bisherige Produktionsweise in der bisherigen Gestalt fort, so eilen wir den Zuständen des alten Rom entgegen, wo zuletzt aller Besitz in den Händen von einigen Dutzend Menschen konzentriert, und die übrige Bevölkerung der grauenhaftesten Armut und Verkommenheit überliefert war.

Ganz Nordafrika z. B. gehörte 2 oder 3 Grundeigentümern, die Nerro in der naturwüchsigsten Weise expropriierte, indem er ihnen den Kopf abschlagen lies.

Würden die Dinge jetzt ähnlich auf die Spitze getrieben, so wäre es vermutlich das Volk, nicht der Kaiser, das die Expropriation vornehmen würde. Die Expropriation aber wäre unvermeidlich.

In's Unendliche können diese Zustände nicht fortdauern, weil sie den Interessen der Gesamtheit zuwiderlaufen, weil sie sich auf die Länge mit der Existenz der Gesellschaft nicht vertragen, trotz der "Harmonie", von der man uns vorredet, und die wir bösen Sozialdemokraten durch unsere "Wühlereien" zu stören suchen.

Wo ist denn die Harmonie ? Sie ist eine Erfindung der Herren Bourgeois, ein Ammenmärchen für kindische Philister und für Arbeiter, die noch nicht zu denken gelernt haben.

Die Streiks, von denen ich vorhin gesprochen und die überall in Deutschland, in Belgien, in England, in Amerika -- kurz in allen Staaten mit moderner Produktion, ohne Zutun der "Führer", ja meist gegen deren Wunsch losbrechen und trotz der empfindlichsten Niederlagen sich immer wieder erneuern -- sie sind die beste Antwort auf die Harmoniephrasen, die beste Illustration dieser Harmonielehre.

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Wir sollen die"Harmonie" zu stören suchen ? Alberne Lüge. Wir wollen die Harmonie schaffen, wir wollen den jetzigen Gesellschaftszustand reformieren, weil er die Interessen der Menschen in feindlichen Konflikt gebracht hat, weil er Unterdrücker und Unterdrückte, Ausbeuter und Ausgebeutede einander gegenüberstellt. Die Harmonie, die wir anstreben, sie liegt in der Genossenschaft. Nicht Herren und Knechte soll es mehr geben, sondern Genossen, Menschen mit gleichen Rechten und Pflichten.

Nur in der Genossenschaft, die auf dem Prinzip der Gleichheit beruht, ist die Harmonie möglich. Das ist kein Traum -- die Idee ist eine tausendjährig erprobte. Seit Tausenden von Jahren haben wir bereits eine Genossenschaft, in der die ganze menschliche Kultur wurzelt -- die Ehe. Mann und Frau haben gemeinschaftliche Interessen. Ich will hier nur vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus sprechen. Der Eine oder Andere von Ihnen, meine Freunde, ist vielleicht in der Lage gewesen, sich eine Wirtschafterin halten zu müssen. Er wird dann die Erfahrung gemacht haben, daß, von sonstigen Unannehmlichkeiten nicht zu reden, die Kosten der Haushaltung unverhältnismäßig hoch waren. Warum ?

Die Wirtschafterin hat ihr eigenes Sonderinteresse, das dem des Hausherrn schnurstracks entgegenläuft. Sie sieht zunächst auf ihren eigenen Vorteil. Anders die Frau. "Mann und Weib sind ein Leib", sagt das Sprichwort. Die Frau hat das gleiche wirtschaftliche Interesse mit dem Mann, sein Vorteil ist ihr Vorteil und sein Schaden ist ihr Schaden. Betrügt die Frau den Mann, so betrügt sie sich selbst. Kurz, es besteht Harmonie der Interessen, und in dieser Harmonie finden beide Teile ihren wirtschaftlichen Vorteil. Und das ist der Grund, warum man mit einer Frau billiger Haus hält als mit einer Wirtschafterin. Genau dasselbe gilt von der heutigen Bourgeoisproduktion. Der sogenannte Arbeitgeber hat andere Interessen als der Arbeiter. Der Arbeiter hat ein Interesse, für seinen Lohn möglichst wenig zu arbeiten, der sogenannte Arbeitgeber hat ein Interesse, möglichst viel Arbeit für den Lohn, den er bezahlt, herauszuschinden. (Verzeihen Sie das etwas unparlamentarische Wort -- es fällt mir im Moment kein anderes gleich bezeichnendes ein.) Der Arbeiter hat ferner ein Interesse, seine Arbeit auf möglichst kurze Zeit zu verkaufen; der sogenannte Arbeitgeber sie auf möglichst lange Zeit zu kaufen, also die Arbeitszeit möglichst auszudehnen, unbekümmert darum, ob der Arbeiter körperlich und geistig dabei zu Grunde geht. Kurz: feindliche Interessen und die grellste Disharmonie statt der angeblichen "Harmonie" !

Wie gut die Bourgeosie -- das darf ich ja nicht zu erwähnen vergessen -- die wirtschaftlichen Vorteile der Assoziation, d. h.

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der wirklichen Harmonie der Interessen begriffen hat, erhellt aus dem Partnership -Humbug, den sie neuerdings ausgebracht hat, und der zum einzigen Zweck hat, die Produktivkraft des genossenschaftlichen Prinzips in die Dienste des Kapitals zu pressen.

Der Arbeiter wird durch den als Köder dienenden "Anteil am Gewinn" zu einer intensiveren Tätigkeit, als sie beim einfachen Lohnverhältnis stattfindet, angespornt und, indem er für sich selbst zu arbeiten vermeint, arbeitet er sich zu Schanden, um dem menschenfreundlichen Kapitalisten, der mit der Wurst nach der Speckseite wirft, den Löwenanteil des durch diese intensivere Tätigkeit erlangten Mehrprofits zu erschanzen. Die Zahl der Arbeiter, die auf den Köder angebissen haben, ist übrigens eine sehr geringe -- ein Zeichen, daß dieser Mißbrauch des Assoziationsprinzips durch und für die Feinde des Assoziationsprinzips, von der Masse unserer Arbeiter durchschaut wird.

Ich komme nun auf den Vorwurf zurück, wir wollten das Eigentum zerstören, jedoch zu einer anderen Ausdrucksform dieses Vorwurfs: wir "teilen", oder wie die Gegner in ihrer "gebildeten" Weise meist sagen: wir wollten "Theelen" ! Natürlich mit Denen, die etwas haben, also den besitzenden Klassen. Nun, es hat sich in neuerer Zeit wiederholt ereignet, daß das Proletariat die besitzenden Klassen in der Gewalt und folglich die beste Gelegenheit hatte, mit ihnen zu "teilen" oder, ohne Beschönigung, sie auszuplündern. Ich erinnere an die Februarrevolution, an die Märztage in Wien, Berlin und anderwärts, an die Kommune.

Trotz mancherlei Lügen, die geflissentlich verbreitet worden sind, ist es aber eine Tatsache, daß zu keiner Zeit das Eigentum mehr respektiert und, ganz abgesehen vom "Teilen" im Großen, weniger "Verbrechen gegen das Eigentum" begangen wurden, als während dieser Krisen.

Es hat dies seine zwiefachen Grund: Erstens macht das Proletariat einen Unterschied zwischen Menschen und Zuständen, und weiß, daß die Zustände nicht zu ändern sind durch einfachen Händewechsel des Eigentums. Zweitens sind in revolutionären Perioden die Gemüter exaltiert und drückt sich den verdorbensten Naturen ein idealer Stempel auf. Letzteres zeigt sich in der (beiläufig statistisch nachgewiesenen) Abnahme nicht nur von Eigentums-, sondern auch von allen sonstigen gemeinen Vergehen in revolutionären Zeiten. In Paris nach der Februarrevolution trieben die Arbeiter den Respekt vor dem Eigentum so weit, daß sie, um ihre heilige Sache rein zu erhalten, die Diebe erschossen.

Ich selbst fand noch Ende Februar 1848 an den Tuilerien die mit Kreide geschriebenen Worte: "Les voleurs sont mis à mort !" "Die Diebe werden getötet."

Dies erinnert mich an einen köstlichen Witz Heinrich Heines, des größten deutschen Dichters seit Goethes Tod:

"Die Bourgeois", so

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ungefähr schrieb er -- ich glaube, in einem Briefe an die Augsburger "Allgemeine Zeitung" -- sah dem Sturz des Julithrones mit großer Gelassenheit zu; als sie aber erfuhren, daß die Diebe erschossen wurden, ergriff sie ein panischer Schrecken, und die Herren Rothschild und sonstige Großkapitalisten entfohen aus Paris, wo sie sich nicht mehr sicher fühlten."

Ja, die -- ich will nicht sagen Diebe, aber die "Teiler", die wirklichen "Teiler", denen die summarische Volksjustiz damals in die Glieder fuhr, es sind nicht die Arbeiter, nicht die Sozialisten, es sind die Herren Kapitalisten. Und auch diesen Vorwurf geben wir also unseren Gegnern zurück.

Wie die Arbeitgeber mit ihren Arbeitern "teilen", habe ich schon auseinandergesetzt. Noch größer und auffälliger wird das "Teilen" an der Börse betrieben, nur daß hier nicht der Arbeiter, sondern der Kleinbürger, der Mittelstand im weiteren Sinne des Wortes, das Wild abgibt. Worauf läuft der Gründungsschwindel hinaus, dem fast die gesamte Presse dient ? Auf Plünderung des Publikums durch geschickte Spekulanten. Lesen Sie nur die Börsenberichte des " Leipziger Tageblatts ", das im Uebrigen unseren Anschauungen fern, sehr ferne steht. In diesen wirklich vortrefflichen Aufsätzen wird die Börsenspekulation als das reinste, nur modernisierte, Raubrittertum charakterisiert.

Der Börsenspekulant spannt seine Netze aus und die unglücklichen Grünlinge, die hineinfliegen, sind seine Beute. -- Jeder von Ihnen hat von Strousberg gehört. Wie hat er sich seine Millionen erworben ? Nicht durch Arbeit, sondern durch sein Talent, das Geld anderer Leute in seine Taschen zu eskomitieren. Doch Strousberg ist nach den herrschenden Eigentumsbegriffen ein ehrenwerter Mann; ein königlich preußischer Staatsbeamter hilft ihm bei seinen Operationen, denen so das königlich preußische Staatssiegel aufgedrückt wird, damit ja kein Zweifel darüber obwalte, daß diese Jagd auf das Eigentum im Geist der heutigen Gesellschaft und des heutigen Staates ist.

Wenden wir uns von den großen "Teilern" zu einer Gattung

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von kleinen, die Ihnen zum Teil aus eigener Erfahrung bekannt sind; ich meine die Verleger oder Faktoren. Der Weber im Erzgebirge arbeitet an sich für einen Hungerlohn, aber dieser wird ihm noch verkürzt durch jene Menschenart, die sich zwischen ihn und den Kaufmann oder Fabrikant gedrängt hat. Der Weber, der den Tag über 12, 14, 16 Stunden arbeitet, wird von Jahr zu Jahr ärmer, die Faktoren dagegen, deren einzige Arbeit ist, vom Kaufmann zum Weber das Rohmaterial und vom Weber zum Kaufmann die fertige Ware zu bringen, werden mit seltenen Ausnahmen reich. Warum ? weil sie das "Teilen" verstehen. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Sie erinnern sich der Volksversammlung, die wir vor einigen Monaten in Leipzig zur Besprechung der städtischen Verwaltung hatten.

Unser Freund Bebel führte damals aus, wie die städtischen Steuern von den besitzenden Klassen, die das Heft in den Händen haben, hauptsächlich aus den Taschen der Armen gezogen und hauptsächlich zum Vorteil der Wohlhabenden verwandt werden. Für Crimmitschau ist Aehnliches nachgewiesen worden, und wenn wir genau untersuchen, werden wir die Erscheinung überall finden, wo die Klassenherrschaft existiert, im Staat sowohl als in der Gemeinde. Es liegt eben in der Natur der Klassenherrschaft, daß die herrschende Klasse ihre Macht zu ihrem privaten und Klassenvorteil ausnützt. Darum bekämpfen wir die Klassenherrschaft als die Wurzel aller sozialen Uebel und die durch sie bedingten politischen Mißstände.

Kurz -- nicht wir sind es, die "teilen" wollen, wir schleudern auch diesen Vorwurf auf seine Urheber zurück. Wir sind die prinzipiellen Gegner des "Teilens" in jeder Gestalt. Die Sozialdemokratie will den "Teilern" das Handwerk legen; den "Teilern", welche dem Arbeiter einen Teil des Ertrages seiner Arbeit vorenthalten; den "Teilern", welche das kleine Eigentum verschlingen; den "Teilern", welche durch Steuern das Volk aussaugen Gegen diese Horde von "Teilern", die wie ein Heuschreckenschwarm im Staat und in der Gemeinde, auf der Börse, in der Industrie und im Handel -- denn auch der Handel gehört hierher -- die Früchte des Fleißes verzehren, wollen wir die Gesellschaft, wollen wir die Arbeit, wollen wir das Eigentum schützen.

Noch Eins: Wie stellen sich unsere Gegner denn eigentlich das "Teilen" vor, das sie uns so hartnäckig in die Schuhe zu schieben versuchen ? Trauen sie dem Arbeiter denn wirklich die Einfalt zu, er glaube eine Verbesserung seiner Lage dadurch herbeizuführen, daß von Staatswegen eine Vermögensteilung nach der Kopfzahl vorgenommen wird ? Ich bin seit 25 Jahren in der sozialistischen Bewegung, allein bis auf den heutigen Tag ist mir noch kein Parteigenosse vorgekommen, der eine so klägliche Ignoranz bekundet hätte.

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Jeder Arbeiter weiß: wenn wir, bei Fortdauer des heutigen Produktionssystems, alle vorhandenen Werte -- Grundeigentum und bewegliches Kapital -- in gleiche Teile zerlegen und nach der Kopfzahl verteilen, so ist damit absolut nichts am Wesen der Gesellschaft geändert; die Wirkungen sind momentan beseitigt, die Ursachen aber bestehen fort und müssen die früheren Wirkungen wieder hervorbringen; den Moment, nachdem die Verteilung erfolgt und die Gleichheit mechanisch hergestellt ist, muß, unter dem Einfluß der jetzt waltenden ökonomischen Gesetze, die Gleichheit organisch wieder verschwinden, und es dauert nicht lange, so ist die Ungleichheit in ihrer früheren Schroffheit zurückgekehrt; wir stünden auf dem alten Fuß und müßten von Neuem "teilen". Nein, solche Albernheiten können nicht in dem Kopf eines Sozialdemokraten entspringen; die Sozialdemokratie betrachtet die Gesellschaft als einen lebendigen Organismus, der, wie jeder individuelle Tier- oder Pflanzenorganismus, beständigem Wechsel unterworfen ist und sich aus dem Niederen zum Höheren entwickelt -- nur mit dem Unterschied, daß der Kollektivorganismus, den wir Gesellschaft nennen, unsterblich, unvergänglich ist und aus allen Krisen, die ihm nach Ansicht der Kleingeister und Kleinmütigen tötlich sein sollen, verjüngt, mit frischen Kräften hervorgeht.

Nicht mechanische, sondern organische Veränderungen sind es, was wir erstreben. Das System der Lohnarbeit, auf dem die heutige Gesellschaft mit ihren Ungerechtigkeiten beruht, soll abgeschafft und durch das System der genossenschaftlichen Arbeit ersetzt werden, die Jedem den Ertrag seiner Arbeit gewährleistet und damit der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital einen Riegel vorschiebt.

Nur vermittels dieser Ausbeutung ist aber die Ansammlung großer Privatkapitalien möglich. Wir haben deshalb gar nicht nötig, die vorhandenen Privatkapitalisten prinzipiell zu expropriieren: Die Produktivassoziationen -- mit denen selbstredend das ganze Gebiet des Handels umfasende Konsumvereine Hand in Hand zu gehen haben -- werden allmählich, ohne daß es einer gewaltsamen Massenexpropriation bedarf, das Privatkapital aufsaugen. Die Herren Kapitalisten haben dann entweder in die Assoziationen einzutreten, oder ihr Kapital, liegt tot da und ist für sie wie für die Gesellschaft verloren, so daß es in diesem Falle freilich in ihrem eigenen und der Gesellschaft Interesse wäre, wenn die Gesetzgebung gegen solch törichte Auflehnung Maßregeln anordnete, Maßregeln, wie sie schon der heutige Staat Verschwendern, Geistesschwachen, kurz unzurechnungsfähigen Personen gegenüber trifft. Doch, wie dem auch sei, ist einmal die Gesellschaft in Bezug auf die Produktion sowohl als Konsumtion, also in Industrie und Handel genossenschaftlich organisiert, so ist dem Privatkapital der Lebensnerv abgeschnitten und es muß absterben.

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wie ein gegürtelter Baum, während die allschöpferische Arbeit unaufhörlich neue Werte erzeugt und für das Abgestorbene doppelten und zehnfachen Ersatz schafft.

Da redet man uns allerdings vor -- und die deutschen Volkswirtschaftler, darunter sogar gelehrte Leute, wie Professor Roscher, in Leipzig behaupten es, -- die Arbeit sei nicht der einzige wertschaffende Faktor: es gäbe noch zwei weitere Faktoren: die Naturkräfte und -- das Kapital.

Diese Theorie bietet einen schlagenden Beleg dafür, wie beschränkt oder unredlich das Klassenvorurteil machen kann, und wie wenig Gelehrsamkeit und Denken identisch sind. Daß wir ohne die Naturkräfte nicht arbeiten können, versteht sich von selbst, die Arbeit ist ja nichts anderes als eine Benutzung der Naturkräfte. Ohne den Boden, auf dem ich stehe, ohne die Luft, die ich atme, kann ich keinen Finger erheben: Die Naturkräfte sind unersetzliche Voraussetzungen der Arbeit, aber ohne die Arbeit vermögen sie keine gesellschaftlichen Werte hervorzubringen, erst durch die Arbeit werden sie der Produktion dienstbar.

Es ist also durchaus ungerechtfertigt, sie als Produktionsfaktor neben die Arbeit zu stellen. Doch hier haben wir es mehr mit einem unpräzisen Ausdruck zu tun, als mit einer tendenziellen Unrichtigkeit, wie eine solche unzweifelhaft bezüglich des angeblichen dritten Faktors: des Kapitals vorliegt.

Das Kapital hilft allerdings bei der Produktion, fördert und steigert sie auch, aber da das Kapital nur aufgespeicherte Arbeit, oder genauer [ist]aufgespeichertes Produkt der Arbeit ist, so kann es nicht als selbstständiger Faktor neben die Arbeit gestellt werden, sondern es fällt mit dem Faktor "Arbeit" zusammen, bildet einen Teil derselben.

In der einfachsten Arbeit des simpelsten Tagelöhners steckt beiläufig die aufgespeicherte Kulturarbeit von Jahrtausenden und dieses Kapital, das die Herren Volkswirtschaftler, weil es ihnen nicht in den Kram paßt, den Produktionsfaktoren nicht beigezählt haben, ist für die Produktion unendlich wichtiger als das gewöhnliche Kapital.

Um uns recht anschaulich zu machen, daß die Arbeit es ist, welche das Kapital schafft, und daß das Kapital ohne die Arbeit nichts ist, der Arbeit Alles verdankt, brauchen wir uns nur vorzustellen, es käme eine gewaltige Sintflut, welche sämtliche Arbeiter, namentlich die bösen Sozialdemokraten von der Welt wegfegte, dagegen die Herren Bourgeois mit all ihren Kapitalien, ihren Fabrikgebäuden, ihren Maschinen, ihren glänzenden Palästen, ihrem Schmuck verschonte.

Was würde geschehen ? Entweder

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müßten die Kapitalisten selber arbeiten, oder inmitten ihres Goldes würden sie Hungers sterben, gleich jenem König der griechischen Fabel ( Midas ), der, nebenbei und ohne Anspielung bemerkt, auch Eselsohren hatte.

Setzen wir aber den umgekehrten Fall: die Sintflut fegte alle Kapitalisten weg - ich will ihnen, selbst in der blosen Annahme nicht wünschen, daß sie zu Schaden kommen, sie könnten ja auf irgendeinen Stern (etwa die Venus) versetzt werden, wo Dante seine Seligen wohnen läßt, -- also setzen wir den Fall, die Kapitalisten mit all ihren Kapitalien verschwinden von der Erde, die Arbeiter aber bleiben zurück, ohne Fabriken, ohne Maschinen, ohne Kapitalien irgend welcher Art, nur mit Nahrungsmitteln bis zur nächsten Ernte. Was wäre die Folge ?

Die Arbeiter würden sich Werkzeuge schmieden, Häuser bauen, die Erde pflügen, Schächte graben, und binnen wenigen Jahren wäre das vernichtete Kapital wieder hergestellt, und die letzte Spur der Sintflut verwischt; die Arbeiter aber würden ungleich glücklicher leben, als zuvor, sie wären ihre ehemaligen Herren los, sie hätten das Kapital ohne die Kapitalistenklasse. Denn das halte ich für ausgemacht, daß, wenn durch irgend ein Natur- oder sonstiges Ereignis die Bourgeosie sammt Allem, was drum und dran hängt, vernichtet würde, Keiner der Zurückgebliebenen wäre so naiv, sie wieder künstlich in's Leben zu rufen. Genug: das hypothetische Exempel sollte nur zeigen, daß der Arbeiter den Kapitalisten nicht braucht und sich ohne ihn weit besser befinden würde, daß aber der Kapitalist den Arbeiter braucht und ohne ihn einfach nicht existieren kann, wenigstens nicht als Kapitalist. Nochmals -- wir wollen nicht "teilen" und wir sind sogar so große Feine des "Teilens", daß wir, weit entfernt, mit den Kapitalisten teilen zu wollen, -- entschlossen sind, die Kapitalisten daran zu verhindern, daß sie mit den Arbeitern teilen; und zwar wollen wir dies erreichen durch allgemeine Einführung der genossenschaftlichen Arbeit.

Und ist dies etwa ein utopisches Bestreben ? Ist die praktische Durchführbarkeit des genossenschaftlichen Prinzips in Industrie und Landwirtschaft nicht tausendfach durch die Erfahrung bewiesen ?

Die allgemeine Einführung ist eine Geldfrage, nichts weiter. Und die Geldfrage löst sich auf in eine Frage des guten Willens. Lassalle forderte bekanntlich 100 Millionen Taler Staatsunterstützung für Produktiv-Assoziationen und erregte damit das Wutgeschrei der Bourgeosie, die den Generalbankrott in Aussicht stellte, wenn dem Verlangen willfahrt würde. Ob die von Lassalle angegebene Summe genügt, will ich jetzt nicht erörtern -- jedenfalls ist es eine elende Bagatelle, verglichen mit den Milliarden, die heutzutage für unproduktive, kulturfeindliche, Wohlstand zerstörende Zwecke zum Fenster hinausgeworfen werden. Man nehme nur die kolossalen Budgets für stehende Heere, welche doch nur zur Erhaltung der

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herrschenden staatlichen und gesellschaftlichen Mißbräuche dienen, und man vergegenwärtige sich die Tausende von Millionen, welche der letzte, durch die Furcht vor dem Sozialismus hervorgerufene Krieg verschlungen hat ! Fürwahr, was auch die gesellschaftliche Regeneration kosten mag, so viel wird die Einführung besserer Zustände nicht kosten, als die Erhaltung unserer schlechten Zustände.

Doch weiter.

Den Vorwurf des Kommunismus, der mit den früheren zusammenhängt, kann ich kurz abtun. Was stellen sich die Gegner unter Kommunismus vor ? Daß die Faulenzer, die Nichtarbeiter auf Kosten der der Gesamtheit leben wollen.

Nun, meine Freunde, dieser Kommunismus besteht heutzutage, er ist das Grundprinzip von Staat und Gesellschaft und gegen ihn richtet sich ja die ganze sozialdemokratische Bewegung. In Wirlichkeit hat aber das Wort Kommunismus eine sehr verschiedene, ja entgegengesetzte Bedeutung -- ich sage: In Wirklichkeit, weil die Kommunisten selbst es in diesem Sinne nehmen.

Nicht Ausbeutung der Fleißigen durch die Faulenzer, der Arbeiter durch die Nichtarbeiter bedeutet Kommunismus, sondern Unterordnung der Sonderinteressen unter die allgemeinen Interessen, Rettung der Individualität in der Gemeinschaft, und speziell auf das Eigentum angewandt: Erhebung des Eigentums zum Gemeingut; also nicht Abschaffung des Eigentums -- so lange es Menschen gibt, wird es Eigentum geben --, sondern Verallgemeinerung des Eigentums, das Jedem zugänglich gemacht werden soll, während es jetzt nur das Vorrecht eines winzigen Bruchteils der Bevölkerung ist. Und in diesem Sinn, den Begriff richtig aufgefaßt, wollen wir allerdings den Kommunismus.

Mit wenig Sätzen eile ich hinweg über den sich mir zunächst darbietenden Vorwurf, wir seien die "Barbaren des 19. Jahrhunderts", wir wollten "die Kultur zerstören", der Sieg der Sozialdemokratie sei der "Untergang der Zivilisation".

Eine Partei, welche den unentgeltlichen Volksunterricht, und überhaupt die Unentgeltlichkeit aller Erziehungs- und Bildungsanstalten auf ihrem Programm hat, kann sich durch diese Anklage nicht getroffen fühlen. In gewisser Beziehung freilich müssen wir für schuldig plädieren.

Ja, wir wollen zerstören, was unsere Gegner "Kultur", "Zivilisation" nennen. Wir wollen zerstören Knechtschaft und Unterdrückung, wir wollen zerstören die Saat des Hasses und der Zwietracht, die zwischen die Menschen gesät ist, wir wollen zerstören die Unwissenheit, die geistige Nacht, in welche die ungeheure Mehrzahl unserer Brüder gestürzt ist. -- Ja, Ihr Herren Bourgeois, die Unwissenheit wollen wir zerstören, wir Feinde Eurer Kultur ! Eure Kultur ist eben das Gegenteil der Kultur: sie kann sich nur dadurch retten, daß sie das Volk zur Dummheit ver-

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dammt, ihm die Schätze der wahren Kultur schnöde vorenthält, den Tempel der Bildung ihm verschließt. Diesen Tempel dem Volk zu öffnen, das ist unser Bestreben: die Wissenschaft, die Ihr zum Monopol einiger Auserwählten macht, und für die Ihr kein Stück Brot habt, wenn sie nicht Euren Launen schmeichelt, Eurem Eigennutz fröhnt*) -- die Wissenschaft wollen wir zum Gemeingut Aller machen. Und dies soll geschehen durch ein System echter Volksschulen -- nicht Dressuranstalten wie die Volksschulen von heute, die ein Hohn sind auf den Namen; nicht Volksschulen, deren Lehrer körperlich und deren Schüler geistig verhungern müssen, und die den Kindern der Armen ein paar kümmerliche Brosamen hinwerfen, welche zur Nahrung des Geistes auch nicht entfernt ausreichen, -- nicht Volksschulen, in denen das niederste Maß der Kenntnisse gelehrt wird -- nein, Volksschulen in des Wortes wahrer Bedeutung, Schulen für das Volk, die allen Kindern das höchstmögliche Maß der Bildung mitteilen, die in jedem Kind alle Anlagen wecken und entfalten, und nicht wie heute, mit einem Lebensalter abschließen, wo die eigentliche Bildung erst beginnt. Der Sozialismus "kulturfeindlich" ! Weil er jedem Talent die Möglichkeit bietet, sich zu entwickeln ? Welch ein gewaltiger Hebel des Kulturfortschritts liegt nicht in dieser bloßen Tatsache der wirklichen Volkserziehung !

Die Talente sind gleichmäßig unter die Menschen ausgestreut -- es ist dies eine Wahrheit, die durch die Wissenschaft über jeden Zweifel erhoben wird, und an der wir festhalten müssen, weil sie die Basis der sozialistischen und demokratischen Weltanschauung bildet; aber die heutige Gesellschaft erlaubt es nur den Wenigsten, ihre Anlagen auszubilden, und gibt auch diesen Wenigen, mit seltenen Ausnahmen, nur eine einseitige, verkrüppelte Ausbildung. D[d]ie ungeheure Mehrzahl der Talente wird jetzt vollständig erstickt.

Man wundert sich oft, warum in gewissen Epochen so viel bedeutende Männer erstehen. Das sind eben Epochen, in welchen den schlummernden Talenten Gelegenheit geboten wird, sich zu äußern und zu betätigen, namentlich ist dies der Fall in revolutionären Epochen, die neue Kräfte zur Verteidigung der neuen Ideen und Einrichtungen erheischen. Man nehme z.B. die Masse der großen Staatsmänner, Redner und Feldherrn, welche die französische Revolution auszeichnen. In solchen Zeiten gibt es nicht mehr Talente als in gewöhnlichen Zeiten,

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*) Als ich den Vortrag hielt, wußte ich noch nicht, daß Feuerbach dem Hungertod überliefert worden. Der verhungernde Feuerbach auf der einen Seite, und als Pendant auf der anderen der zum Götzen der liberalen Bourgeoisie avancierte "erzinfame Pfaffe Dolligerius", -- dies genügt, die "Bildung" unserer Bourgeoiswelt zu charakterisieren

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aber -- um mich eines volkswirtschaftlichen Ausdrucks zu bedienen -- es ist mehr Nachfrage nach Talenten.

Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sie macht auch "große Männer".

Ein "großer Mann" ist ein gewöhnlicher Mann, der die Gelegenheit gehabt hat, "groß" zu werden. Dies nur, um zu zeigen, wie unendlich unsere Kultur gefördert werden muß, wenn die Gesellschaft es einst als ihre höchste Aufgabe betrachtet, die Talente Aller zur möglichsten Entwicklung zu bringen. Also die höchstmögliche Summe der Bildung für Alle !

Allen zugänglich und frei machen wollen wir die Wissenschaft, sie soll nicht länger in Fesseln geschlagen werden, ihr Dienst nicht länger zur materiellen Armut oder zur geistigen Prostitution verurteilen. Ja, zerstören wollen wir Eure Kultur --zerstören wollen wir sie, weil sie der wahren Kultur feindlich ist; weil sie sich mit der wahren Zivilisation nicht verträgt; weil sie die Wissenschaft zwingt, sich dem Reichtum und der Macht zu verkaufen; weil sie, auf Ungerechtigkeit beruhend, durch und durch unsittlich ist, und die Prostitution der Wissenschaft der Prostitution des Weibes hinzugefügt hat, -- die Prostitution des Weibes, den häßlichsten Schandfleck unserer Afterkultur.

Und die Vertreter dieser Gesellschaft der Prostitution haben die Stirn, uns vorzuwerfen -- es ist das ein weiterer Trumpf, den man gegen uns ausspielt --, wir wollten die Familie vernichten, die Weibergemeinschaft, die "freie Liebe" einführen !

Nun -- die freie Liebe, ja, wir wollen sie; wir wollen die Liebe befreien von den Fesseln, welche die heutige Gesellschaft ihr angelegt hat. Aber wenn unsere Gegner von Weibergemeinschaft, von Vernichtung der Familie reden, so erblicken sie nur sich selbst im Spiegel. Sie klagen uns ihrer eigenen Sünden an. Weit entfernt, die Weibergemeinschaft zu erstreben, wollen wir die jetzt herrschende Weibergemeinschaft abschaffen; weit entfernt, die Familie vernichten zu wollen, ist es unser Ziel, die Familie, welche jetzt degradiert und in ihrer Reinheit der großen Masse ein unerreichbares Ideal ist, zu adeln, und zu bewirken, daß sie ihre Segnungen über Alle ergieße.

Zu meiner lebhaftesten Freude sehe ich, es sind viele Frauen anwesend in dieser Versammlung; es liefert dies einen Beweis, daß die Frauen begriffen haben, wie nahe die soziale Bewegung sie angeht, welch hohes Interesse sie an dem Sieg unserer Prinzipien haben. Man redet heutzutage viel von einer sogenannten Frauenfrage.

Für uns gibt es keine besondere Frauenfrage und kann es keine geben, weil die Interessen der Menschen solidarisch sind. Die Frauenfrage ist ein Teil der großen sozialen Frage; mit ihr wird sie gelöst, ohne sie nimmermehr. Wer die Emanzipation des Weibes will, ohne für die allgemeine soziale Emanzipation zu kämpfen, der unternimmt eine hoffnungslose Pfuscharbeit. Wer aber für die allgemeine soziale Emanzipation kämpft, kämpft dann zugleich

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auch für die Emanzipation des Weibes. Und fürwahr, die Lage der Frauen in der heutigen Gesellschaft würde für sich allein schon genügen, die sozialistische Bewegung zu rechtfertigen und der Gesellschaft, die solche Zustände erzeugt, das Todesurteil zu sprechen.

Wo ist denn die "Heiligkeit der Familie", von der unsere Gegner fabeln? Nur in Berlin rechnet man mit 20.000 prostituierten Dirnen, und Berlin ist nicht "unmoralischer" als andere Städte. Ueberall in Deutschland, England, Frankreich, Amerika -- überall, wo der Klassengegensatz besteht, wo eine breite Kluft gähnt zwischen Arm und Reich, wo die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen Regel und Gesetz ist, haben wir das Uebel der Prostitution.

Die Prostitution, sie ist nicht lokal, sie ist nicht national -- keine Nation hat das Recht, pharisäerhaft ihre Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen: "Ich danke Gott, daß ich nicht so schlecht bin wie die anderen Nationen." Die Prostitution ist die notwendige Folge der herrschenden Zustände, sie ist die unvermeidliche Ergänzung der Bourgeoisehe, ihre widerliche Doppelgängerin; sie ist eine allgemeine gesellschaftliche Institution und spottet daher aller Versuche, sie innerhalb der heutigen Gesellschaft auszurotten. Höchstens läßt sie sich durch heuchlerische Sittenpolizei von dem Markt in die abgelegenen Gassen treiben.

Solange Hunderttausende von Mädchen die Wahl haben, Hungers zu sterben oder für Geld sich hinzugeben, wird die Prostitution fortdauern. Verschwinden kann sie nur, wenn jedem Menschen die Möglichkeit gegeben wird, ehrlich zu leben; und dazu bedarf es einer Umwälzung der heutigen Gesellschaft, der heutigen Produktionsweise. Die tiefstgesunkene Dirne ist unseres Mitleids, unserer Sympathie wert, ihre Geschichte ist eine gesellschaftliche Tragödie von erschütternder Wirkung für Den, der ein menschliches Herz in der Brust trägt und im menschlichen Herzen zu lesen weiß. Schlechte Erziehung, schlechtes Beispiel, Familienlosigkeit, Hunger -- das sind die treibenden Ursachen: wer wagt es, einen Stein zu werfen auf die Gefallenen ?

Auf die unglücklichen Opfer der Gesellschaft ? Was aber ist die Prostitution anderes als Weibergemeinschaft ? Weibergemeinschaft in der unmoralischsten, rohesten Form ? Und uns bezichtigt man, die Weibergemeinschaft zu wollen ? Wenn wir sie wollten, so würden wir der heutigen Gesellschaft nicht den Krieg erklärt haben. -- Ich sagte vorhin, die Prostitution ist die widerlichste Doppelgängerin der Bourgeoisehe. Betrachten wir doch die Ehe der heutigen Gesellschaft ! Ist nicht die Ehe zur Prostitution gemacht durch das Kapital ? Beruht sie etwa in der Regel noch auf Liebe, auf freier Neigung ? Entscheidet nicht wesentlich der Besitz ? Ist die

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Ehe nicht eine Spekulation, ein Geschäft, statt eines Bundes der Herzen ? Verkauft das Weib sich nicht auch in der Ehe ? Wird es nicht verkauft wie eine Ware ? Sind in den höheren Klassen Ehen aus Liebe nicht geradezu verpönt ? Wird nicht das gegenseitige Vermögen genau abgewogen ? Gilt es nicht für eine Torheit, "unter dem Stand" zu heiraten ? Gilt es nicht für "klug", für "praktisch", daß arme Eltern ihre Tochter nötigen, einen reichen, abgelebten Lüstling die Hand zu reichen ? Würde der Fabrikant, der seine Tochter einem sie liebenden und von ihr geliebten Arbeiter zur Frau gibt, nicht bei seinen Standesgenossen als Tollhauskandidat gelten ? Dagegen, wenn er sie zwingt, sich einem ungeliebten und nur aus "Vernunft" heiratenden Mitbourgeois zu überliefern, wird er nicht auf allgemeine Billigung zu rechnen haben ? Ist das aber nicht Prostitution ? Ist die Frau nicht Handelsartikel ?

Und wohlgemerkt, nicht nur "auf der Höhe" der Gesellschaft geht es so zu -- die Profanation der Ehe, diese Prostituierung der Liebe finden wir in allen Schichten der Gesellschaft, wo der Mammonkultus herrscht.

Es fällt mir da ein Bild aus den "Fliegenden Blättern" ein: Zwei Bauern sitzen zusammen, der Sohn des Einen wünscht die Tochter des Anderen zu heiraten. "Mein Sohn bekommt so und so viel Morgen Land, so und so viel Ochsen, Kühe und Pferde. Wie viel bekommt Deine Tochter?" Ich kann ihr nur so und so viel geben. "Das ist zu wenig, du mußt noch ein paar Kühe und Ochsen zulegen." Ich kann nicht. "Gut, dann wird aus der Sache nichts."

Das ist ein Bild aus dem Leben und kein Juvenal könnte eine brennendere Satiere schreiben. Wir sind stolz auf unsere Kultur und dünken uns wunderbar erhaben über die Wilden, und doch verschachert man bei uns die Mädchen für Ochsen und Kühe, ganz wie es die Kaffern in Südafrika tun. Und warum auch nicht ? Unsere Gesellschaft basiert auf der Degeneration des Menschen, den sie zur Ware gemacht hat, und daß die Frau ihren Körper verkaufen muß, ist nur ein Teil des Systems, welches den Arbeiter zwingt, seine Arbeit, dh, sich selbst, Leib und Seele zu verkaufen.

Freilich, ein wesentlicher Unterschied besteht hier: Das, wozu der Lohnsklave sich verkauft, ist eine gesellschaftlich notwendige Leistung, die nur durch die Bedingungen, unter welchen sie stattzufinden hat, zu einem Fluch für den Arbeiter wird, während Das, wozu die prostituierte Dirne sich verkauft, die schmachvollste Entweihung der Liebe, und damit der Menschennatur ist.

Die Liebe gibt sich, kann sich nicht verkaufen. Verkauft, sei es mit Ehe, sei es ohne Ehe, ist sie Prostitution.

Jede Ehe, die Mammon geschlossen hat, wenn auch vom Priester gesegnet, ist Prostitution; jede Vereinigung von Mann und Weib, die Liebe

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geschlossen hat, auch wenn vom Priester nicht gesegnet, ist eine wahrhafte Ehe.

Doch auch eine andere Form der menschlichen Ware ist dem Weib in der heutigen Gesellschaft nicht erspart. Hat das heißhungrige Kapital, dessen Appetit durch die verschlungenen Opfer nur gesteigert wird, nicht der Frau, so gut wie dem Manne, die Ketten der Lohnsklaverei angelegt, ja sie in die Arbeiterbastillen, genannt Fabriken, hineingerissen ? Und hat es damit nicht die "Familie" für das arbeitende Volk tatsächlich zerstört ? Doch das ist nicht Alles. Selbst die Kinder schleift das Kapital in seiner Unersättlichkeit auf den Altar seines menschenfressenden Bitzliputzli.

Mann, Frau, Kinder -- Alles Lohnsklaven ! Wo bleibt da das "Daheim", ohne welches Familienleben nicht denkbar ?

Und trotzdem schlägt sich das fromme Kapital auf die Brust und bittet den Himmel, er möge es vor den bösen Sozialdemokraten bewahren, welche die Familie vernichten wollen ! Oh, Ihr Heuchler ! Der Arbeiter, er hat keine Familie ! Ihr habt sie ihm geraubt ! Und weil er eine Familie haben will, um Mensch sein zu können, darum ist er Sozialdemokrat !

Die Arbeit ist die Grundlage alles menschlichen Fortschritts, durch die Arbeit allein ist es der Menschheit gelungen, sich über das Tier zu erheben, sich von der Sklaverei der Natur zu befreien. Aber das Mittel der Befreiung ist zum Mittel der Unterdrückung geworden. Statt frei zu sein durch die Arbeit, ist der Arbeiter Sklave der Arbeit. Von dieser Sklaverei der Arbeit muß der Arbeiter befreit werden. Er soll nicht eine lebende Maschine sein, die aus einem Menschen zu einem Ding gemacht, oft nur als Anhängsel eine toten Maschine -- Weber, Zimmermann, Maschinenbauer heißt; er soll ein Mensch sein, der webt, der zimmert, der Maschinen baut, um seine gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen.

Der Arbeiter, welcher 12, 14, 16 Stunden täglich in der Werkstätte, der Fabrik zubringt, oft noch einen langen Weg von und nach der Stätte der Arbeit zurücklegen muß, hat keine Zeit, Mensch zu sein. Er kommt totmüde nach Haus, schläft und eilt des anderen Morgens, noch müde vom vorhergehenden Tag, wieder an die Arbeit. Das ist keine menschliche Existenz, kaum eine tierische. Kein Bauer wird seine Pferde, sein Zugvieh so abzurackern für gut finden. Doch der Mensch ist duldsammer als das Tier und zum Glück auch zäher.

Wohlan, gerade durch die Zerstörung der Familie, gerade durch die Herabwürdigung des Weibes hat die heutige Gesellschaft, weit mehr als durch ihre sonstigen Verbrechen, sich die moralische Berechtigung zur Fortexistenz entzogen, sich ihr Todesurteil gesprochen. Eine Gesellschaft, welche die Prostitution zur offiziellen Gesellschaftseinrichtung gemacht hat, darf das Wort Sittlichkeit nicht in den Mund nehmen,

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ohne zu erröten, sie ist gerichtet, und sie muß an der Empörung des menschlichen Sittlichkeitsgefühls zu Grunde gehen, das in der Brust der Unterdrückten lebt. -- Das Weib, mit feineren Nerven, mit feineren Empfindungen ausgestattet als der Mann, fühlt seine Entwürdigung tiefer als der Mann.

Darum der begeisterte Anteil der Frauen an der sozialistischen Bewegung, die ihnen die Freiheit, die Würde verheißt.

Darum die hervorragende Stellung, welche die Frauen neuerdings in dem Heldenkampf der Kommune eingenommen haben. Junge Mütter, mit dem Säugling an der Brust, trotzten den Chassepotkugeln und ermunterten die Männer zur Tapferkeit; Mädchen ergriffen die Fahne, welche der Hand eines sterbenden Blousenmannes entfallen war, und trugen sie todverachtend dem Feind entgegen, bis sie, den Busen vom Blei der schnapstrunkenen Ordnungssoldaten durchbohrt, leblos dahinsanken; Hunderte von gefangenen Frauen und Mädchen empfingen stolz, trotzig die Todeswunde mit dem Rufe: es lebe die Kommune ! und aus dem brechenden Auge noch den Siegern die Verachtung zuschleudernd.

"Niederträchtige Petroleusen !, "Prostituierte Dirnen !", "Verworfene, die nur Abscheu einflößen können !" brüllte im Chorus die reaktionäre Bourgeoispresse.

"Niederträchtige Petroleusen ?" Niederträchtige Bourgeoislüge ! Elendes Märchen, erfunden von Schurken, geglaubt von Dummköpfen -- schon heute durch das Zeugnis ehrlicher Gegner widerlegte Verleumdung !

"Prostituierte Dirnen" ? Kein Zweifel, es waren zum Teil, freilich zum kleinsten Teil, "prostituierte Dirnen" ! Aber war es die Kommune, die sie dazu gemacht ? Nein, Ihr Herren Bourgeois, es war Eure Gesellschaft, Eure "beste aller möglichen Welten", die ihnen das Mal der Infamie eingebrannt, die sie entweiht hatte. Die Kommune dagegen hatte ihnen die Möglichkeit geboten, sich wieder aus dem Schlamme zu erheben und von dem Schmutz Eurer Gesellschaft zu reinigen. Und Ihr wollt Euch wundern, daß glühende Begeisterung für die Kommune, wütender, dämonischer Haß gegen die alte Gesellschaft, die Gesellschaft der Prostitution, sie in den Kampf trieb, daß sie, halb Engel, halb Furien, das erlttene Unrecht zu rächen, ihr Leben der Schmach durch den Tod für eine heilige Sache zu sühnen suchten ?

Ach, das "ewig Weibliche" in diesen entweibten Verstoßenen ist gleich dem getretenen Wurm emporgeschnellt und hat Eure Gesellschaft in die Ferse gebissen. Ihr nennt Euch Christen -- habt Ihr vergessen, wie Euer Christus die scheinheiligen Heuchler beschämte, welche die Ehebrecherin steinigen wollten ? Und Ihr wagt es, sie noch im Tode zu beschimpfen, die Opfer Eurer Gesellschaft, diese Märtyrerinnen

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der neuen Lehre, die dem Sklaven das Ende seiner Knechtschaft, dem Weib das Ende seiner Prostitution zeigt ?

Sie, meine Freunde, haben es wohl begriffen, daß die Frauenfrage untrennbar ist von der allgemeinen sozialen Frage, und daß es von größter Wichtigkeit für uns ist, die Frauen in unsere Bewegung hineinzuziehen: die Gewerksgenossenschaft der Fabrik- und Handarbeiter, die hier in Crimmitschau ihren Vorort hat, macht keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Arbeitern, und hat durch diese tatsächliche Anerkennung der Gleichberechtigung beider Geschlechter mehr für die Frauenemanzipation getan, als alle unsere Frauenvereine zusammengenommen, welche die "Frauenfrage" gepachtet zu haben meinen.

Die Frau ist die notwendige Ergänzung des Mannes, ohne die Frau kann der Mann nicht Mensch sein, ohne die Teilnahme der Frau kann der Mann kein menschliches Ideal verwirklichen. Wir bedürfen deshalb der Hilfe der Frauen in unserer Bewegung. Und Pflicht wie Interesse gebieten es ihnen, uns im Kampf zur Seite zu stehen. Die Frauen sie fühlen am meisten die Misére der heutigen Gesellschaft, sie werden auch am meisten die Vorteile der sozialen Emanzipation fühlen. Möge d'rum jedes Weib, jedes Mädchen, statt den Mann, statt den Geliebten, von der Bewegung zurückzuhalten, ihn anfeuern, ihm Mut einflößen, wenn er erlahmt; und jede Mutter, möge sie ihren Kindern das Evangelium der Freiheit und Gleichheit predigen, damit ein Geschlecht heranwachse, das im stolzen Bewußtsein der Menschenwürde nicht will, daß es noch Herren und Knechte gebe. --

Freundinnen und Freunde ! Noch einen Vorwurf habe ich zurückzuweisen, und ich bin mit diesem Teil meines Vortrages zu Ende. Man sagt, wir wollten die Bourgeoisie stürtzen, um auf ihren Trümmern die Herrschaft der Arbeiterklasse zu errichten.

Unser Programm widerlegt diese Anklage. Es ist wahr, wir wollen die Herrschaft der Bourgeoisie brechen, aber nur um jede Klassenherrschaft zu brechen. Die Bourgeoisie beurteilt uns nach sich selbst; sie beseitigte den Feudalstaat nur, um den Bourgeoisiestaat an seine Stelle zu setzen. Sie verdrängte eine Klassenherrschaft durch die andere. Das Proletariat hat ein höheres Ziel. Es hat zu sehr unter der Klassenherrschaft gelitten, um nicht prinzipiell der Klassenherrschaft feind zu sein. Und welche Klasse soll es denn beherrschen wollen ? Es ist ja die "unterste Klasse", und hat folglich keine Klasse, die es beherrschen und ausbeuten könnte.

Was wir erstreben, ist die genossenschaftliche Organisation der Gesellschaft, die Gleichheit der Rechte und Pflichten. Wie die Solidarität die Schranken des Stammes, der Nation (letztere wenigstens geistig und ökonomisch, wenn auch noch nicht politisch) niedergeworfen hat, so muß sie auch die Schranken der Klassen und

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Stände zu Boden werfen, damit der Menschheitsbegriff zu freier Entfaltung gelange. Keine Ausbeuter und keine Ausgebeuteten ! Keine Herren und keine Knechte ! Keine Herschaft und keine Knechtschaft ! Ordnung in der Gleichordnung, statt der Unordnung in der Unterordnung.

Das ist es, was wir wollen. Und welcher ehrliche Mann kann es ungerecht finden ?

Ich habe nun der Reihe nach die Hauptanklagen, die man gegen uns vorzubringen pflegt, durchgenommen, und die Haltlosigkeit derselben nachgewiesen. Ich habe gezeigt, daß diese Verleumdungen nur das Zerrbild der Bourgeoisiegesellschaft selbst sind, die unter dem Einfluß des bösen Gewissens im Nebel ihrer erhtzten Phantasie das eigene häßliche Konterfei sieht.

Ich habe gezeigt, daß, was die Vertreter und Lobredner der alten Gesellschaft uns vorwerfen, die Laster, die Gebrechen, die Verbrechen der alten Gesellschaft sind.

Ich habe gezeigt, daß das "Teilen", daß die "Weibergemeinschaft" systematisch nur in der alten Gesellschaft geübt wird. Ich habe gezeigt, daß es die alte Gesellschaft ist, welche das Eigentum mit Füßen tritt, die Familie zerstört, die Segnungen der Zivilisation dem Volke entzieht, die Kultur mißbraucht und gefährdet. Ich habe gezeigt, daß wir, die Sozialdemokraten, der Bourgeoisie gegenüber die Vorkämpfer des Eigentums, der Familie, der Zivilisation, die Bekämpfer des "Teilens" und der "Weibergemeinschaft" sind. Ich habe gezeigt, daß wir es sind, die in die Welt des Zwiespalts und der Unordnung -- Harmonie und Ordnung bringen wollen. Kurz, ich habe gezeigt, daß wir alle Vorwürfe unserer Gegner umdrehen und ihnen zurückschleudern können: nicht gegen, sondern für die Familie; nicht gegen sondern für die Kultur; nicht gegen, sondern für die Ordnung; nicht gegen, sondern für die "Harmonie".

Ich habe gezeigt, daß die Arbeiterbewegung eine Kulturbewegung ist, die nicht der Laune, der Willkür, dem Zufall ihren Ursprung verdankt, sondern mit Naturnotwendigkeit entstanden ist, mit Naturnotwendigkeit sich erfüllen muß.

Ich habe gezeigt, daß nur Gedankenlosigkeit und Ignoranz die Berechtigung der sozialdemokratischen Bewegung in Zweifel ziehen können, und daß jeder Versuch, diese Bewegung zu hemmen, ebenso hoffnungslos und unsinnig ist, wie der Versuch des Stiers, eine heranbrausende Lokomotive aufzuhalten. Wie die Lokomotive zermalmend über ihn hinweggeht, so wird die Arbeiterbewegung über alle Hindernisse hinweggehen.

Das sollten die Gegner begreifen. Sie sollten begreifen, daß es in ihrem Interesse ist, eine Katastrophe zu verhüten. Die heutige Welt kann nicht zur Ruhe kommen. Die Interessen sind in Konflikt miteinander, und Klassenkampf und Krieg sind die notwendige Folge. Verdient ein solcher Zustand die Mühe, welche

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welche man sich gibt, ihn zu erhalten ? Man kann unsere Gegner in zwei Rubriken einteilen: die, welche uns aus Unwissenheit, und die, welche uns aus bösem Willen bekämpfen. An erstere richte ich die Mahnung: Lernt unsere Bewegung kennen ! Ihr werdet aufhören, sie zu fürchten, sobald ihr sie kennt. Die Furcht ist der schlechteste Ratgeber. Das rote Gespenst, daß Euch entsetzt, ist gleich allen Gespenstern ein Produkt der Unwissenheit und verschwindet vor dem prüfenden Blick des Verstandes. Die Erkenntnis der ökonomischen Verhältnise beseitigt aber nicht nur die Furcht, sie beseitigt auch den Fanatismus.

Die Wissenschaft kennt keinen Fanatismus. Die Wissenschaft appeliert nicht an die Leidenschaften, sie denunziert nicht, sie studiert. Sie weiß, das alle Erscheinungen ihren zureichenden Grund haben; sie sucht diesen Grund zu erforschen, aber hadert nicht mit den Erscheinungen. Man zeige mir eine frühere Kulturbewegung, die es gelungen wäre zu unterdrücken, die nicht schließlich die Widersacher besiegt hätte. Wozu das tausendmal Mißlungene uns gegenüber versuchen ? Hat denn das heutige Geschlecht nicht aus der Geschichte gelernt ? Müssen wir den jede schon längst gemachte Erfahrung noch einmal selber auf unsere Kosten machen ? Das hiese ja jede Wissenschaft, jeden menschlichen Fortschritt leugnen.

Und Ihr, die Ihr uns aus bösem Willen bekämpft, die Ihr wißt, das wir Recht haben, und nur aus Eigennutz uns entgegentretet -- bedenkt, daß es ein kurzsichtiger Egoismus ist, der Euch leitet. Die heutige Gesellschaft bietet Euch große Vorteile, allein durch keine Macht der Erde werdet Ihr Eure priviligierte Stellung behaupten. Euer Reich neigt sich dem Ende zu. Ihr müßt fallen: versteht Ihr Euer wahres Interesse, so werdet Ihr den Fall zu dämpfen suchen. Ihr habt die Geschichte von den Sibyllinischen Büchern gelesen: je länger Ihr zaudert, gerecht zu werden -- gerecht zu werden aus Interesse, desto mehr wird sich Eure Lage verschlimmern, unter desto ungünstigeren Bedingungen werdet Ihr Eure Unterwerfung unter die neue Welt zu vollziehen haben. Uns bekämpfen hat keine andere Wirkung, als die Geburtswehen zu erschweren und vielleicht -- die Geburt zu beschleunigen.

Jedenfalls habt Ihr nur zu verlieren, wenn Ihr der Krisis durch gewaltsame Störungsversuche einen gewaltsamen Charakter aufdrängt.

Eine Katastrophe zu vermeiden, liegt im Interesse Aller, in dem Eurigen so gut als in dem unsrigen. In dem Interesse Aller liegt es, daß eine Brücke gebaut werde, die aus der alten Welt hinüberführt in die neue. Ein englischer Staatsmann hat den Ausspruch getan, die Geschichte der Parteien sei eine Geschichte von Kompromissen. Bis zu einem gewissen Punkt ganz richtig ! Schade nur, daß die an der Herrschaft befindlichen Parteien sich meist erst dann zu Kompromissen entschließen, nachdem sie alle Mittel des

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Widerstandes erschöpft haben, und oft schon so geschwächt sind, daß der Kompromiß den absoluten Bankrott bedeutet.

Wenn eine herrschende Partei Scharfblick und Klugheit hat, wird sie mit jeder andringenden Volksbewegung einen Kompromiß abschließen.

Nur durch eine Reihe von solchen Kompromissen -- man mißverstehe das Wort Kompromiß nicht, Kompromiß heißt, statt des abrupten Bruchs mit der Vergangenheit durch Abkommen der Parteien ein Uebergangszustand geschaffen wird -- nur durch eine Reihe von Kompromissen, also durch Reformen, kann der sozialen Bewegung ein friedlicher Verlauf gesichert, und der Uebergang aus der alten in die neue Welt mit möglichster Schonung für die Interessen der jetzt herrschenden Klassen bewerkstelligt werden.

Im Interesse der jetzt herrschenden Klassen liegt deshalb ein Kompromiß noch weit mehr als in dem unserigen, denn wir werden auch ohne Kompromiß das Ziel erreichen, wahrscheinlich sogar früher. Was uns einen Kompromiß empfehlen könnte, sind Rücksichten der Humanität, während er unseren Gegnern durch das persönliche Interesse empfohlen wird. Ob wir einen Kompromiß wünschen oder nicht, ist übrigens sehr gleichgültig: es hängt ausschließlich von unseren Gegnern ab, ab einer zustande kommt oder nicht. Will die Bourgeoisie einen Kompromiß, so wird ein Kompromiß zu stande kommen, ob wir wollen oder nicht.

Die Bourgeoisie verfügt direkt oder über den Staat über das Heer, über das Kapital und über die Presse, kurz über alle materiellen und geistigen Machtmittel: sie hat folglich die Macht, die Lösung der sozialen Frage auf dem Wege der Kompromisse und Reformen anzubahnen. Sie braucht nur zu wollen, um zu wollen, muß sie freilich vorher begriffen haben, daß die heutigen Zustände auf Unrecht beruhen, und unhaltbar sind. Den ehrlichen Gegnern rufe ich darum nochmals zu: Studiert die soziale Frage ! Die soziale Frage verstehen, heißt sie lösen. Unverstanden muß sie die furchtbarsten politischen und gesellschaftlichen Erdbeben hervorrufen. Die soziale Frage ist die Sphynx, die den tötet, der ihr Rätsel nicht lösen kann, die sich aber selbst tötet, sobald ihr Rätsel gelöst ist. Das Rätsel der Sphyny war der Mensch. Und es ist auch das der sozialen Frage. Ehe das Rätsel Mensch gelöst ist, wird die Welt nicht zur Ruhe kommen, und die Sphynx der sozialen Frage fortfahren, der Gesellschaft ihr dräuendes Antlitz zu zeigen, sie aus einem Schreck in den anderen, aus einem Blutbad in das andere zu werfen.

Zwei Welten stehen sich gegenüber: die alte und die neue -- die absterbende Welt der heutigen Gesellschaft und die ideale Welt der Zukunft; ein breiter, tiefer Schlund gähnt zwischen ihnen. Die heutige Gesellschaft treibt und stürmt dem Abgrunde zu, ein blinder

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Schreck hat sich ihrer bemächtigt, sie gleicht einer Büffelherde, die, um dem Präriebrand zu entrinnen, geschlossenen Auges in wahnsinniger Angst voranstürtzt, nicht achtend des breiten Erdspalts, der sich vor ihr öffnet; ihn zu überspringen ist unmöglich -- noch einige Schritte, und der Anprall ist zu groß, um noch Kehrt zu machen; die Vordersten versinken zuerst, und nur nachdem der Abgrund mit Leichen gefüllt ist, können die Ueberlebenden das rettende Jenseits erreichen. -- Soll der Schlund zwischen der alten und der neuen Welt mit Leichen ausgefüllt werden ? Und der Präriebrand, dem die heutige Gesellschaft zu entrinnen sucht, besteht obendrein nur in ihrer Einbildung, kann nur durch ihre Furcht zur Wirklichkeit werden. Läßt sich denn keine Brücke erbauen, die uns sicher hinüberträgt in die neue Welt ? Wir können es nicht. Unsere Gegner können es, und wenn sie es tun, erwerben sie sich ein unauslöschliches Verdienst um die Menschheit.

Ich komme nun zum Schluß. Was wir zu tun haben, ist uns klar vorgezeichnet. Wir marschieren voran auf dem Pfade der Pflicht. Verzichte man darauf, uns abzulenken oder einzuschüchtern.

In Paris hat die Sozialdemokratie gezeigt, daß sie, wenn es sein muß, für ihre Prinzipien sterben kann. Eingedenk des Wahlspruchs:

Noblesse oblige, *) werden wir nie vergessen, daß unsere Sache die Sache der Menschheit ist. Die Gegner haben zu entscheiden, ob das Ziel in Frieden erreicht wird oder nach blutigem Kampf. Wie die Entscheidung auch falle, wir akzeptieren sie. Von persönlichem Haß wissen wir uns frei. Selbst im Feind achten wir den Menschen. Die Polen trugen während des letzten Aufstandes auf ihren Fahnen die Inschrift: Für uns und für Euch !

So kämpfen auch wir für uns und für unsere Feinde: denn auch ihnen gilt das Befreiungswerk, denn auch sie bedürfen der Erlösung. --

An Sie aber, meine Freunde, richte ich die Mahnung: arbeiten Sie in Ihrem Verein ruhig, unverdrossen fort, erlahmen Sie nicht in Ihrer Tätigkeit, verbreiten Sie unsere Ideen -- und sollte Sie je einmal Mutlosigkeit erfassen, dann richten Sie sich auf an dem Beispiel des edlen Jacoby, der nie gewankt, wo Alles um ihn wankte, und erinnern Sie sich seines Wortes: "Die Gründung des kleinsten Arbeitervereins wird für den künftigen Kulturhistoriker von größerem Wert sein als der Schlachttag von Sadowa."

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*) Adel verpflichtet; eine edle Sache legt hohe Verpflichtungen auf. Eigentlich die Devise eines französischen Adelsgeschlechts.

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Noten.

Sozialismus und Christentum (Siehe Seite --- 6 --- f.).

Jedes Gleichnis hinkt, und das zwischen Sozialismus und Christentum ist neuerdings so abgehetzt worden, daß es recht sehr hinkt. Das Christentum war, gleich dem Sozialismus jetzt, ein Protest gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit, war das gährende Lebenselement inmitten einer verfaulenden Welt. Damit hört aber auch die Aehnlichkeit auf; und wenn man, "Jesus von Nazareth" (von dem wir beiläufig nicht einmal wissen, ob er gelebt hat, nur wissen, daß Alles, was von ihm erzählt wird, falsch sein muß) -- wenn man "Jesus von Nazareth" zu einem Sozialisten stempeln, den Sozialismus als das "wahre" Christentum ausgeben will, so zeigt das entweder von großer Unwissenheit, oder es ist eine gemeine Spekulation auf den "Unverstand der Massen".

Das Christentum protestierte, wie der Sozialismus, gegen eine auf Ungerechtigkeit beruhende Gesellschaftsform; aber das Christentum verurteilte sich von vornherein zur Unfähigkeit, eine neue, bessere Gesellschaftsform zu schaffen, indem es die Verwirklichung des Gerechtigkeits-Ideals in's "Jenseits" verlegte, und die "Mühseligen und Beladenen" dieser Erde durch den Hinweis auf den Himmel entmannte.

Das Christentum ist wesentlich Entmannung; darum auch Origines der vornehmste Kirchenvater. Der Sozialismus hat seinen Wirkungskreis auf der Erde, und will sich die Erde erobern.

Der Christ klagt, der Sozialist handelt; der Christ sieht sein Ideal in dem an's Kreuz geschlagenen, ohne Widerstand verblutenden "Heiland", der Sozialist achtet nur Den, der bereit ist, in tatkräftigem Ringen das Aeußerste zu wagen für sein Menschenrecht; der Christ leidet, der Sozialist kämpft; der Christ ist demütig, der Sozialist revolutionär; der Christ knebelt den Geist und macht das Natürliche zur Sünde, der Sozialist gibt dem Geist die Freiheit, der Natur die Herrschaft; das Christentum erniedrigt, der Sozialismus erhöht den Menschen; das Christentum hat die antike Kultur zerstört und die Welt in tausendjährige Finsternis gestürtzt, erhellt nur durch lodernde Scheiterhaufen und die Brandfackel fanatischer Glaubensidioten -- der Sozialismus hat den Beruf, die vom Klassenstaat der Gegenwart mit seiner Polizei-, Soldaten-, Bourgeoisie-, und Pfaffenwirtschaft bedrohte Kultur zu retten.

Mit einem Wort: Das Christentum ist Knechtseligkeit, Fäulniß-, Glaube, Tod, und der Sozialismus ist Freiheit, Kampf, Wissenschaft, Leben; das Christentum ist ein Gespenst der Vergangenheit; der Sozialismus die Forderung der Gegenwart, die Erfüllung der Zukunft.

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Materialismus. Anläßlich meiner Bemerkung über Materialismus (Seite --- 9 --- ) will ich hier auf folgende Aeußerung Darwins hinweisen: "Es ist doch wahrlich nicht schwer gewahr zu werden, daß der gewiß ganz verwerfliche "ethische oder sittliche Materialismus" ganz und gar nichts mit dem von uns vertretenen "wissenschaftlichen

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oder naturphilosophischen Materialismus" zu tun hat. Im Gegenteil schließen sich beide gewöhnlich geradezu aus. Die praktisch-materialistischen Tendenzen, das hastige Streben nach materiellen Glücksgütern und raffiniertem Lebensgenuß und die daraus folgende sittliche Entartung finde ich gerade in denjenigen Kreisen der Gesellschaft am stärksten entwickelt, welche am breitesten ihre religiöse Frömmigkeit zur Schau tragen, und welche dagegen von der Natur und ihrem Wesen nichts wissen, sich also auch keinen philosophisch-materialistischen Gedanken darüber machen können. Umgekehrt findet sich dieser ethische Materialismus gerade am wenigsten bei den materialistischen Philosophen ausgebildet."

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"Voller Ertrag der Arbeit" (Seite --- 24 --- ). Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier ausdrücklich bemerkt, daß die Forderung des vollen Ertrages der Arbeit nicht bedeuten kann, daß jeder einzelne Arbeiter für sich persönlich das Aequivalent seiner Leistung ohne jeglichen Abzug zu beanspruchen habe, denn dann wäre, selbst wenn es möglich wäre, der ökonomische Fortschritt, ein Wachsen des Nationalreichtums (im wahren Sinn), des Reichtums der Gesellschaft, undenkbar. Aber es ist gar nicht möglich.

Um im wörtlichen Sinn des Wortes jedem Arbeiter "den vollen Ertrag seiner Arbeit" zu geben, wäre vor Allem erforderlich, daß sich die Arbeit des einen Individuums von der des anderen völlig trennen, die Arbeitsleistung eines jeden Arbeiters sich haarscharf individualisieren ließe. Und das geht nicht an. Es war dies höchstens möglich in den Urzeiten menschlicher Kultur, wo von gesellschaftlicher Arbeit noch nicht die Rede war und ein Jeder sich die primitiven Werkzeuge für seine primitive Arbeit auch noch selbst anfertigen konnte.

Wie ist aber heute, bei der modernen Massenproduktion, der Arbeitsanteil jedes Einzelnen, ich meine die von dem Einzelnen geleistete Arbeit, genau abzumessen ? Welch unendlich verwickelte Verrechnungen wären da zu machen ? Und wie wäre es außerdem festzustellen, welchen Anteil an der Arbeit eines jeden Einzelnen die Arbeitswerkzeuge und Maschinen haben, mit deren Hilfe die Arbeit verrichtet wird ? Und in diesen Arbeitswerkzeugen und Maschinen steckt ja doch auch die Arbeit noch unzähliger anderer Menschen, als derer, die sie angefertigt haben. Sind doch die Bedingungen, unter denen heute jede Arbeit geleistet wird, das Produkt viel tausenjähriger Kultur, die ihrerseits wieder Produkt menschlicher Kollektivarbeit, oder richtiger der menschlichen Gesamtarbeit ist, so daß wir mit Fug und Recht sagen können, in der Arbeitsleistung eines jeden Arbeiters steckt die Arbeit der früheren Generationen von Arbeitern. Diese Unmöglichkeit, die persönliche Arbeitsleistung des Einzelnen festzustellen, ist beiläufig der beste und durchschlagendste Grund gegen das persönliche Eigentum.

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Da nur die Arbeit "Eigentum" schaffen kann, rein persönliche individualistische Arbeit unmöglich, und der genaue Ertrag der individuellen Arbeit nicht festzustellen ist, so kann folgerichtig auch von einer Berechtigung des persönlichen Eigentums (außer insoweit es sich um persönliche Gebrauchswerte handelt) nicht die Rede sein.

Wenn wir vom "vollen Ertrag der Arbeit" sprechen, so kann dies also nur unter der stillschweigenden Voraussetzung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit geschehen. Der Arbeiter arbeitet als Glied der Gesellschaft, die seiner Arbeit erst ihren eigentlichen Wert, ihre, mit früheren Kulturperioden verglichen, wunderbar gesteigerte Produktivität gibt; die Gesellschaft garantiert ihm seine menschenwürdige Existenz, und ein Teil seiner Arbeit muß der Gesellschaft zu Gute kommen. Da die sozialistische Gesellschaft aber nur Individuen mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten kennt, so kommt, was der Gesellschaft zu Gute kommt, damit eo ipso auch jedem Einzelnen zu Gute.

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Partnership (Seite --- 30 --- ). Was ich von der Partnership sagte, gilt auch in gewisser Hinsicht von der Stück- und Akkordarbeit, welche der "Arbeitgeber", wo es nur immer geht, an Stelle der Zeitlohn- (Tagelohn-) Arbeit deshalb zu setzen sucht, weil sie den Arbeiter in seinem eigenen Interesse zwingt, seine Arbeit intensiv, also im Interesse des Arbeitgebers möglichst produktiv zu machen. Dieses System der Arbeit hat für den Kapitalisten außerdem noch den Vorteil, daß es 1) die Arbeiter zur Konkurrenz untereinander zwingt, sie folglich veranlaßt, sich gegenseitig, statt gemeinsam die Arbeitgeber, zu bekämpfen, und daß es 2) indem einzelne Arbeiter durch übermäßige Anspannung ihrer Kräfte zur Erreichung von relativ hohen Löhnen in Stand gesetzt werden, eine allgemeine Herabdrückung des Lohnes begünstigt. Die englischen Arbeiter haben dies begriffen, und ihre Trades Unions streiten darum hartnäckig für den Zeit- (Tage-)Lohn.

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Die revolutionären Arbeiter und das Eigentum (Seite --- 30 --- f.)

Im achten Band des großen Quellenwerks über die französische Revolution (Histoire Parlementaire) von Buchez und Roux finden wir (Seite 150) folgende Stelle über die zweite Hälfte des Jahres 1790:

"Die Verfasser der besten Schriften über die gesellschaftliche Moral gehörten dem Jakobinerklub an, und sie schrieben sehr viel. Alle behaupten das Prinzip der Hingebung (Dévouement) und Brüderlichkeit. Mehrere Broschüren, wie die "Schule der Land-

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leute (Ecole des laboureurs) von Lequino", die " Erklärung der Menschenrechte" , Jedermann verständlich gemacht und mit den wahren Grundsätzen jeder Gesellschaft verglichen von dem Jakobiner Charles Morel , hatten einen großen Erfolg.

Die demokratischsten Schriftsteller: Carra , Loustallot , Robespierre , Marat waren auch Diejenigen, welche mit der glühendsten Ueberzeugung die Notwendigkeit sittlichen Handelns betonten. -- Selbst Camille Desmoulins , den sein vorwiegend satyrisches Talent dazu bestimmt zu haben schien, die Geißel über die Konterrevolution zu schwingen, überraschte sich selbst manchmal durch Regungen des reinsten sozialen Gefühls. Am Schluß sehr vernünftiger Betrachtungen über das Duell Bernave's (welches von den damaligen Demokraten, gleich dem Duell überhaupt, auf's Entschiedenste verurteilt wurde) ruft er aus: "Obgleich ihre Lebensweise und ihre Bohnen*) nicht sonderlich nach meinem Geschmack sind, so habe ich doch die Pythagoräer immer geliebt, weil sie füreinander starben; so aufopfernd sollten auch die wahren Jakobiner und alle guten Patrioten sein. Die Aristokratie ist egoistisch, denn egoistisch und aristokratisch sind gleichbedeutende Worte."

In seinen "Revolutionen von Paris" erzählt Camille Desmoulins nachstehenden charakteristischen Vorgang, der sich am 13. November 1790 zutrug: "Man (die Aristokratie) hat eine Bande von Kopffechtern gebildet, welche die feurigsten Patrioten der Nationalversammlung und die beredtesten Verteidiger des Volkes aus der Welt schaffen sollten. Die Herren (das "Bürger" war zu jener Zeit noch nicht eingeführt) Ch. Lameth, Menon, Barnave, Robespierre, Roederer, Rabaud, Bernard wurden fast gleichzeitig gefordert, jeder von einem anderen Gegner. Herr Ch. Lameth wurde gezwungen (?), sich mit Herrn von Castries zu schlagen, und wurde ernstlich verwundet. Die Umstände dieses Duells haben das Volk, welches dieser fortgesetzten Angriffe auf seine Vertreter schon müde war, dergestalt erbittert, daß es sich sofort in Bewegung setzte, um an Herrn von Castries seine gerechte Rache zu üben. Man eilte in Masse nach dessen Hotel**) mit der Absicht, es von unten bis oben zu demolieren. "Das Haus gehört ihm nicht," sagte sein Nachbar. Auf diese Worte hin änderte das Volk seinen Plan; da es nur den Herrn von Castries bestrafen wollte, drang es in in das Hotel ein, zerschlug und zeriß Alles, was nicht niet- und nagelfest war: Möbel, Spiegel, Betten, Silberzeug, Geld, Kassenanweisungen -- Alles ward kurz und klein gemacht und die Trümmer zum Fenster hinaus-

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*) Die Pythagoräer, mit denen Camille hier die Jakobiner vergleicht, waren Pflanzenkost-Esser.

**) Hotels nennt man in Paris die großen Privat-Paläste und Wohnhäuser der alten adligen Familien, überhaupt alle große bewohnte Bauten; so sagt man z.B. das Hotel der Invaliden -- das palastartige Wohnhaus der Invaliden.

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geworfen. Mitten in dem Tumult sagte einer der Sprecher des Volkes: "Wir sind ehrliche Leute; wir sind hier als Verteidiger unserer Freunde; der Erste, der einen Nagel stiehlt, wird gehängt !" Dies energische Plebiszit wurde durch ein einstimmiges "Bravo ! Wer schlechte Absichten hat, wird aufgeknüpft" zum Gesetz erhoben. Als das Volk aus dem Palais herauskam, hatte Jeder den Rock aufgeknöpft, die Weste offen und die Taschen nach Außen gewandt."

Soweit Camille Desmoulins. Man denke sich den Schrecken unserer "ehrlichen Leute" und "Gründer", wenn jeder aufgeknüpft würde, der nicht mit gutem Gewissen die Taschen umwenden kann ! -- Im ganzen Verlauf der "großen" französischen Revolution begegnen wir derselben Uneigennützigkeit des Volkes; demselben Bestreben, das sittliche Ideal praktisch zu betätigen. In den fieberhaftesten Momenten der Schreckenszeit tritt dieser Zug unverkennbar hervor. In der Julirevolution das nämliche Schauspiel. Nach der Februarrevolution wurde statistisch festgestellt, daß vom 26. Februar bis zur Juni-Insurrektion weit weniger Verbrechen, namentlich auch gegen das Eigentum, in Paris und Frankreich vorgekommen, als je zuvor in dem gleichen Zeitraum.

Aehnliche Beobachtungen wurden nach den Märztagen in Deutschland gemacht.

Während der Junischlacht schützten die Insurgenten mit fast religiöser Scheu Leben und Eigentum der in ihrer Gewalt befindlichen Gegner; die Behauptungen des Gegenteils sind durch sorgfältige Untersuchung als infame Lügen entlarvt worden. Die Kommune hat zwei und einen halben Monat Paris in unumschränkter Gewalt. Das Leben Tausender von Feinden, Millionen und Milliarden von Bourgeois- und Staatseigentum waren dem Proletariat auf Gnade und Ungnade überliefert -- nicht ein Feind wurde getötet, außer im offenen Kampf; nicht ein Centime öffentlichen oder Privateigentums wurde "geraubt". In Spanien konnten wir während der letzten Volkserhebungen dieselben Beobachtungen machen.

Der "Volksstaat" schrieb z.B. in seiner Nr. 79 (des Jahres 1873) wie folgt:

Aus Spanien. Ueber Valencia lesen wir in dem Londoner Blatt "Echo" d. d. Madrid, den 11. August: ""Ich muß gegenüber anderweitigen Mitteilungen erklären, daß die Nachricht, die Insurgenten hätten geplündert, vollkommen aus der Luft gegriffen und von dem Bankdirektor selbst öffentlich für eine Verleumdung erklärt worden ist. Weit entfernt, die Bank zu plündern, haben die Insurgenten Schildwachen vor dieselbe gestellt, welche erst entfernt wurden, als die Insurgenten die Stadt räumen mußten.

""Auch nicht der geringste Akt von Räuberei oder Plünderung wurde im Laufe der 15 Tage, während derer die Stadt in den Händen der Rebellen war, begangen, obgleich in dieser Zeit die Paläste und Wohnungen der Reichen verlassen standen und sammt Allem, was darin, der Gnade der Insurgenten preisgegeben waren. Ich (der Korresspondent des "Echo" war nämlich die ganze Zeit über in Valencia) sah 3 Tage hintereinander eine Uhr

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nebst Kette, eine Lorgnette und einen Koffer auf dem Marktplatz öffentlich ausgestellt mit einem Zettel dabei, worauf geschrieben stand: "niemand darf diese Gegenstände anrühren, bis der Eigentümer kommt und sie reklamiert." Eine Abteilung hungriger Volkswehren kam eines Abends in unser Hotel und verlangte etwas zu essen, bemerkend, da alle Läden geschlossen seien, hätten sie den ganzen Tag noch keinen Bissen zu essen gehabt. Der Hotelbesitzer, offenbar von Furcht ergriffen, brachte Brot, einige rohe Zwiebeln und grünes Gemüse, erklärend, das sei Alles, was er noch habe. Sie fragten nach dem Preis, und wir antworteten schnell für den Eigentümer, sie hätten nichts zu bezahlen; unser einziger Wunsch war, die ungebetenen Gäste möglichst rasch loszuwerden. Sie erwiderten aufgebracht, sie wollten nichts geschenkt haben und würden lieber Alles stehen lassen, als es unbezahlt zu genießen. Erst nach längerem Hin- undHerreden verstanden sie sich zur Annahme, unter der ausdrücklichen Bedingung, daß wir ihnen erforderlichen Falles bezeugen würden, sie seien nicht mit der Absicht gekommen, ihr Mahl gewaltsam zu holen, und hätten dasselbe nur auf unseren dringenden Wunsch ohne Bezahlung angenommen.""

"Dies der Bericht eines Augenzeugen, der zu den "Rebellen" nicht in der entferntesten Beziehung steht und seiner politischen Stellung nach ihnen eher feindlich gesinnt ist als freundlich. Es ist die alte Geschichte: überall und zu allen Zeiten, wo das Volk momentan in den Besitz der Gewalt kam, war seine erste Sorge, die Gemeinschaft mit Denjenigen zurückzuweisen, welche ebenfalls Krieg führen gegen die bestehende Ordnung der Dinge, jedoch nicht offen, nicht revolutionär, sondern schleichend, feig, durch den Diebstahl im Kleinen. Das haben wir bei hundert Gelegenheiten in der "großen" französischen Revolution gesehen, das haben wir in der Julirevolution gesehen, in der Februarrevolution, in den deutschen Märzkämpfen, in der Junischlacht, während der Kommune --- und jetzt haben wir es wieder in Spanien. Ob der Proletarier vor dem Prinzip des bürgerlichen Eigentums noch eine heilige Scheu empfindet oder ob er das bürgerliche Eigentum für "Diebstahl" hält -- gleichviel: er würde es als eine Ehrlosigkeit, als eine Herabwürdigung seiner selbst und seiner Sache betrachten, sich in konkreten Fällen an dem bürgerlichen Eigentum zu vergreifen; selbst der rücksichtsloseste Kommunist will nicht, daß der an dem arbeitenden Volke begangene Diebstahl durch den Diebstahl gesühnt werde; sein Streben ist, die heutige Gesellschaft mit ihrer Produktionsform umzustürtzen, -- aber das Stehlen überläßt er, solange er ihnen das Handwerk nicht legen kann, den vornehmen und gemeinen Langfingern der heutigen Gesellschaft, die natürlich für solche Enthaltsamkeit kein Verständnis haben und dem Proletariat darum alle Spitzbübereien und Niederträchtigkeiten andichten, die sie selber an seiner Stelle begangen hätten."

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(Seite --- 36 --- ) Wenn ich sage, der letzte Krieg sei durch die Furcht vor dem Sozialismus hervorgerufen worden, so meine ich damit, daß Bonaparte, den die Furcht der Bourgeoisie vor dem Sozialismus auf den Tron gebracht hatte, durch die Furcht vor den sozialistischen Arbeitern in jene Abenteurerpolitik gedrängt wurde, die ihn schließlich nach Sedan führte. Hätte die französische Bourgeoisie sich nicht in ihrer tollen Angst vor dem Roten Gespenst dem traurigen Helden von Straßburg und Boulogne in die Arme geworfen, so wäre uns das französiche Empire sammt seinem deutschen Abklatsch erspart worden.

Die Furcht vor dem Sozialismus beherrscht überhaupt die ganze Politik der Gegenwart. Schon 1848 brachte sie die Märzrevolution zu kläglichem Scheitern.

Die Regierungen hatten im "tollen Jahr" Kopf und Macht verloren -- die Kronen brauchten nur von den Köpfen der Träger genommen zu werden. Allein das Bürgertum wurde an derartigen "kühnen Griffen" durch das Proletariat gehindert, welches unheimlich im Hintergrund auftauchte und durch sein bloßes Erscheinen die revolutionäre Tatkraft lähmte. Unsere deutschen Bürger sind an sich nicht feiger, als ihre englischen Klassengenossen im 17. und ihre französischen im 18. Jahrhundert, -- die Angst vor den Arbeitern sitzt ihnen aber im Nacken und lähmt ihre Tatkraft, wie sie denn überhaupt aus dem heutigen Bourgeois den feigsten, charakterlosesten Kerl gemacht hat, der jemals auf der Bühne der Weltgeschichte aufgetreten ist.

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"Die Talente sind gleichmäßig unter die Menschen ausgestreut."

Dies soll natürlich nicht bedeuten, daß alle Menschen gleich veranlagt seien. Die Anlagen keines Menschen sind denen eines anderen Menschen ganz gleich. Aber die Summe der Anlagen ist bei den verschiedenen Menschen so ziemlich gleich, und die jetzt vorhandene Ungleichheit, welche teils ererbt, teils das Produkt der Verhältnisse ist, in denen die Individuen leben, muß mit der Verallgemeinerung der Kultur und der Verwirklichung des sozialen Gleichheitsideals mehr und mehr verschwinden -- was die freieste Entwicklung der Individualität nicht ausschließt, im Gegenteil sie bedingt. Je größer die soziale Gleichheit, desto größer die Mannigfaltigkeit der Talente und Charaktere. Nichts kann törichter sein, als die Behauptung, Gleichheit und Freiheit seien einander widersprechende Begriffe. Im Gegenteil: sie ergänzen einander. Ohne soziale Gleichheit keine politische Freiheit. Erst durch die soziale Gleichheit, welche für jedes Individuum die ökonomischen Existenzbedingungen erzeugt, wird jedem Menschen die Möglichkeit freier Entfaltung seiner Kräfte und freier Berufswahl geboten. Während die heutige individualistische Gesellschaftsordnung, oder richtiger -unordnung, welche den Interessen einzelner Individuen die Interessen der Gesamtheit zum Opfer

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bringt, der ungeheuern Mehrheit der Menschen die individuelle Ausbildung unmöglich macht, ihre Individualität wie unter einer eisernen Dampfwalze plattdrückt, und die "Gleichheit" der Unfreiheit und der Individualitäts-Vernichtung bedeutet, -- schafft dagegen die ökonomische -- oder soziale Gleichheit den Boden, aus welchem -- und aus welchem allein -- die freie Individualität hervorwachsen kann.

ENDE des Abdruckes der Sechsten Auflage 1891

Druck von J. H. W. Dietz, Hamburg

Rolf Pinther 20.5.2012



Wilhelm Liebknecht (29.3.1826 - 7.8.1900)

in Zitatensammlungen unter besonderer Berücksichtigung seines Vortrages in Crimmitschau "Zu Trutz und Schutz"

Das "pm-magazin" zitiert aus "Zu Trutz und Schutz", Seite ---28---

aus: Gratis-Spruch

Sammlung Birgitt Krohn, Lübeck

Sammlung Thomas Schefter, nach dem Aufruf noch"Liebknecht" unter Autor eingeben und "Suche starten"-Button betätigen!



Durch Zeitablauf unverständlich gewordene Stichwörter, aufgelöst von Rolf Pinther

Seinerzeit gebräuchliche Bezeichnung für den vornehmsten Gott der Mexikaner:

Vitzliputzli